Das niederländische Örtchen Helmond will das Wohnen in der Stadt revolutionieren – und plant deshalb eine Smart City von Grund auf neu.
Die Stadt der Zukunft besteht aus drei Bildern. Auf dem ersten erntet ein junger Mann mit Baseballmütze auf dem Kopf selbst angebautes Gemüse, beobachtet von Hund und Hühnern. Auf dem zweiten Bild gehen Bewohner:innen in bunten Regenmänteln mit ihren Hunden Gassi. Und auf dem dritten sitzen Menschen an einem sonnigen Sommertag im Café und genießen ihr Frühstück. Bislang existieren diese Bilder nur als Fotomontagen. Im Laufe dieses Jahres sollen sie langsam Wirklichkeit werden – zumindest dann, wenn es nach den Macher:innen eines Projekts in Helmond geht.
Der 90 000-Einwohner:innen-Ort vor den Toren Eindhovens plant derzeit eine neue Smart City. Das Viertel namens Brainport Smart District soll einmal Wohnungen und Büros beherbergen, Parks und Grünflächen, Freizeitangebote und Restaurants. Alles soll umweltfreundlich sein und technologisch auf dem neuesten Stand.
Schon lange träumen Stadtplaner:innen davon, die ideale Stadt zu erschaffen: mit Roboterautos, die mit smarten Fahrrädern kommunizieren und dadurch jegliche Unfälle vermeiden. Mit Toiletten, die Krankheitsanzeichen der Benutzer:innen erkennen, schon bevor die überhaupt etwas merken. Mit einem unterirdischen Tunnelsystem für die Müllabfuhr, damit die Bewohner:innen nichts davon mitkriegen.
Auch Toronto wollte schon eine solche Metropole der Zukunft erschaffen – oder zumindest einen Stadtteil im Zentrum nach neuen Vorstellungen bebauen, mit beheizbaren Wegen für Fußgänger:innen, ökologischen Holzhäusern, Service-Robotern und selbstfahrenden Autos. Der Google-Mutterkonzern Alphabet hatte den Zuschlag für die Quartiersentwicklung auf einem ehemaligen Industriegebiet bekommen. Kanadas Premierminister Justin Trudeau feierte die Pläne als visionären Schritt zur weltweit ersten „vom Internet aufwärts“ errichteten Gemeinschaft.
Doch das „Quayside project“ scheiterte. 2020 trennten sich die Beteiligten. Offiziell sehe man wegen der unsicheren Lage in der Covid-19-Pandemie keine Chance mehr, die ehrgeizigen Pläne zu verwirklichen. Hinter den Kulissen hatte es allerdings auch Streit gegeben – nach massiven öffentlichen Protesten gegen einen drohenden Überwachungskapitalismus.
Mensch vor Technologie
Die harsche Kritik gegen die Smart-City-Pläne von Google hat die Macher in Helmond nicht abgeschreckt, sondern in ihrer Linie sogar nochbestärkt: „Wir denken zuerst an die Bewohner:innen, an ihre Bedenken und Wünsche“, sagt Peter Portheine, Sprecher des Brainport Smart Districts, „und erst dann an die Technologie.“ Die Initiative will eine Stadt von Grund auf neu und nachhaltig denken, und zwar nicht bloß für, sondern auch mit allen Beteiligten.
In Helmond soll es beispielsweise eine Plattform geben, auf der sämtliche Daten des Stadtteils zusammenlaufen. Diese stammen von den Bewohner:innen selbst, aus ihrem Wasser- und Stromverbrauch, Freizeit- und Mobilitätsverhalten.
Die Vision der Macher:innen: Der Wecker klingelt automatisch früher, wenn ungewöhnlich viel Verkehr auf dem Weg zur Arbeit ist. Ampeln und Straßenlaternen bleiben ausgeschaltet, solange kaum mehr jemand unterwegs ist. Fenster öffnen sich automatisch, damit eine leichte Brise das Haus durchlüftet. Möglich macht das ein Netz aus Sensoren, die im gesamten Stadtteil verteilt sind. Statt Verbrennern stehen lediglich E-Autos zur Miete im Viertel, die Energie stammt aus erneuerbaren Quellen – oder von den Häusern selbst. Zudem sollen die Bewohner:innen mehr als die Hälfte aller Lebensmittel selbst anbauen oder herstellen.
Leitender Architekt des Projektsist Ben van Berkel. Sein Architekturbüro UNStudio hat bereits die Siemensstadt 2.0 in Berlin geplant, das Expo-Gelände in Dubai erdacht und den Campus der Technischen Universität Singapur errichtet. Nun also Helmond. Auf einem 150-Hektar-Areal, groß wie 20 Fußballfelder, sollen in den kommenden zehn Jahren 1500 Wohnungen gebaut und zwölf Hektar Gewerbefläche erschlossen werden.
Dabei ist es kein Zufall, dass die neue Stadt ausgerechnet hier entsteht. Die Region Eindhoven gibt sich gern als Silicon Valley der Niederlande. Das Investitionsklima beschreibt die „Financial Times“ als eines der besten von Europa, gleich hinter London und Helsinki. Eindhoven hat in den vergangenen Jahren kräftig investiert, um zu einem wirtschaftlichen Motor für sich und den Rest der Niederlande zu werden. Deshalb ist die Lage von Helmond so attraktiv: Sieben Minuten dauert es mit dem Zug nach Eindhoven, bald soll es eine Fahrradschnellstraße geben – ohne Ampeln, Fußgänger:innen und andere Verkehrsteilnehmer:innen. Brainport, so der Name des hier ansässigen Hightech-Clusters, soll durch den gleichnamigen smarten Wohnbezirk die passende Infrastruktur für das Leben neben der Arbeit erhalten.
Die Macher:innen träumen von einem nachhaltigen und sozial gerechten Areal, auf dem Menschen gemeinsam wohnen, arbeiten und ihre Freizeit verbringen – unterstützt durch innovative Technologien. Wobei es nicht nur um digitale Innovationen geht – denn der neue Stadtteil ist schon jetzt ein großes soziales Experiment.
Mutige Verwaltung
„Die meisten sind enthusiastisch“, sagt Helmonds Stadträtin Cathalijne Dortmans. Das sehe man beispielsweise im sogenannten Forty-Plots-Projekt: Hier stecken die künftigen Bewohner:innen, die 2018 blind die ersten 40 Grundstücke des Zukunftsbezirks gekauft hatten, inzwischen regelmäßig ihre Köpfe zusammen, zeichnen Grundrisse und entscheiden über die Wasser- und Energieversorgung des Geländes. „Alle haben Lust, etwas Neues zu erschaffen“, sagt Dortmans. Das gelte nicht nur für die künftigen Bewohner:innen, sondern auch für die Planer:innen und für die Stadtverwaltung.
Die Ursprungsidee für das Projekt stammt von Elphi Nelissen. Sie forscht an der Universität Eindhoven schwerpunktmäßig zu Smart Citys. So entstand der Plan, Forschung mit der Praxis zu verknüpfen, auf einem freien Feld ohne Altlasten, ohne Infrastruktur, ohne fertige Grenzen.
Ganz ohne alte Prozesse geht es aber doch nicht. Zunächst sammelte die Uni Bewerbungen für unterschiedliche Teile des Geländes, erstellte ein Q-Book, in dem festgehalten war, was grundsätzlich möglich war und was nicht. In drei Runden gingen mehr als 200 Bewerbungen ein, 37 Projekte werden nun umgesetzt. Ein Team von Student:innen der TU Eindhoven will ein besonders preiswertes, nachhaltiges Haus bauen. Ein E-Mobilitätsdienstleister will eine neue Carsharing-Plattform entwickeln, auf der die Bewohner:innen E-Autos mieten können. Und ein Bauunternehmen will 140 Häuser errichten, die nicht nur genügend Energie für ihre Bewohner:innen erzeugen, sondern auch noch selber Strom ins Netz einspeisen.
Welche Vorschläge sich am Ende durchsetzen, kann heute noch niemand sagen. Aber genau diese Unsicherheit ist Teil des Projekts – Scheitern ist nämlich ausdrücklich erwünscht: „Es gibt keine Blaupause für Smart Citys“, sagt Architekt van Berkel, „wir müssen einfach verschiedene Dinge ausprobieren.“ Ihm kommt es vor allem darauf an, dass digitale und analoge Welt verschmelzen und dass die Bewohner:innen etwas davon haben: „Es geht nicht nur um Technologie, sondern darum, wie sie einen gesunden Lebensstil unterstützen kann – wie wir arbeiten, wie wir Energie und Lebensmittel produzieren, um neue Formen der Mobilität und des Zusammenlebens.“
Der Architekt Roland Dieterle unterrichtet an der Hochschule für Technik in Stuttgart und hat dort den Studiengang Smart City Solutions ins Leben gerufen. Er lobt das experimentelle Modellprojekt in den Niederlanden. Die soziale Struktur funktioniere dann, wenn die Bewohner:innen zufrieden sind: „Das schafft man unter anderem durch Mitbestimmung“, sagt Dieterle. Konkrete Projektideen, über die die Betroffenen abstimmen, hätten einen besonderen Reiz: „Menschen wissen häufig erst, was sie wollen, wenn Vorschläge mit konkreten Möglichkeiten einhergehen.“
Die Smart City soll nicht nur vor Ort neue Maßstäbe setzen, sondern zugleich Antworten auf die großen globalen Herausforderungen unserer Zeit liefern. „Eine funktionierende Stadt braucht soziale Durchmischung“, sagt Dieterle. Hier müssten verschiedene Schichten miteinander leben, von jungen Menschen bis zu alleinstehenden Rentner:innen. Dazu passt, dass 20 Prozent der geplanten Wohneinheiten in Helmond subventioniert werden.
Hoheit über Daten
Und welche Daten letztlich gesammelt werden? Auch das steht noch nicht fest. „Es hängt unter anderem davon ab, welche Firmen involviert sind“, sagt Nelissen. Aber es gehe nicht darum, Konzerne wie Google oder Microsoft große Datenmengen sammeln zu lassen, um darin Muster zu erkennen und Geld zu verdienen. Die Daten sollen lediglich den Bewohner:innen ihren Alltag erleichtern. Deshalb sollen auch alle die volle Hoheit über ihre Daten behalten, momentan überprüfen zwei Organisationen das Konzept auf ethische und regulatorische Fragen.
Noch in diesem Jahr sollen Familien, Singles, Rentner:innen und Student:innen Tür an Tür leben. Fest steht schon jetzt: Helmond hat bereits das Interesse mehrerer Weltmetropolen geweckt – noch vor dem ersten Spatenstich.
„Erst vor Kurzem haben wir einen Anruf aus Toronto bekommen“, erzählt Portheine stolz. Die Kanadier:innen wollen nach der Pleite mit Google in Zukunft offenbar einiges anders machen: „Sie sammeln gerade Ideen, wo das Projekt hingehen könnte“, sagt Portheine, „und wir teilen unser Wissen gerne.“
Titelbild: Getty Images