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  • 28.10.2021
  • Nele Antonia Höfler

Wie mit Daten Krankheiten verhindert werden können

Mit “Disease Interception” sollen Krankheiten erkannt werden, bevor sie ausbrechen. Medizinerin Anke Diehl erklärt, wieso die Forschung dazu auf Gesundheitsdaten zugreifen muss.

Unser Gesundheitssystem ist derzeit darauf ausgerichtet, Krankheiten zu heilen, nicht darauf, sie zu verhindern. In der Zukunft dürfte sich das ändern: Mit dem medizinischen Ansatz „Disease Interception” sollen Ärzt:innen Krankheiten erkennen bevor erste Symptome auftreten.  

Mit Hilfe großer Datenmengen und ihrer Auswertung durch künstliche Intelligenz können Mediziner:innen Anhaltspunkte für einen Krankheitsausbruch identifizieren und die Erkrankung so bereits in der Entstehungsphase durch gezielte Gegenmaßnahmen aufhalten oder sogar umkehren.  

Das Institut für Sozial- und Gesundheitsrecht der Ruhr-Universität-Bochum untersucht in einem Forschungsprojekt Hürden und Herausforderungen dieses Ansatzes. An der Universitätsmedizin Essen erforschen die Wissenschaftler:innen, wie das medizinische Personal künstliche Intelligenz und Big Data zum Zwecke der „Disease Interception” anwenden kann. 

Noch gibt es viele offene Fragen. Einige davon beantwortet Anke Diehl im Interview. Sie ist Medizinerin, Expertin für digitale Transformationen an der Universitätsmedizin Essen und zuständig für das Projekt.

Frau Diehl, nehmen wir an, ich würde mit 80 an Alzheimer erkranken. Wieso sollte ich das schon mit Mitte zwanzig erfahren wollen?   

Solche Fragestellungen sind Gegenstand der aktuellen Forschung, wie auch wir sie betreiben. Auf der einen Seite bietet Disease Interception die Chance, dass Ärzt:innen den Ausbruch der Erkrankung dann vielleicht noch verhindern könnten. Wenn Sie Symptome entwickeln, würde ihre Ärztin oder ihr Arzt bei einer Biopsie Fibrillen entdecken. Wenn sie diese Fibrillen im Vorfeld diagnostizieren, könnten sie womöglich eingreifen, bevor sich die Krankheit entwickelt. Auf der anderen Seite sind noch viele offene Fragen zu klären – ethische, datenschutzrechtliche, gesundheitsökonomische und medizinische.

Wie sieht Disease Interception in der Praxis aus?

Wir sind im Forschungsstadium. Als Universitätsmedizin Essen beteiligen wir uns an einem Forschungsprojekt des Instituts für Sozial- und Gesundheitsrecht an der Ruhr-Universitätsmedizin Bochum. Klar ist, dass im bei der Identifikation von Anhaltspunkten, die auf einen Krankheitsausbruch hinweisen, der Sammlung und Auswertung großer Datenmengen (Big Data) sowie dem Einsatz künstlicher Intelligenz eine besondere Bedeutung zukommt. KI-Algorithmen haben das Potenzial, Vorhersagen über spezialisierte Fragestellungen treffen zu können. Die KI kann zum Beispiel den Ärzt:innen helfen, zu bewerten, ob die Patientin oder der Patient einen medizinischen Eingriff gut vertragen wird oder nicht.  

Ein wichtiger Faktor ist, dass wir dazu über immer mehr Gesundheitsdaten verfügen müssen und diese auch über einen längeren Zeitraum zurückverfolgen können.

Müssten Gesundheitsdaten verschiedener Praxen hierzu zentral und standardisiert gespeichert werden?

Das ist das Ziel. Dann hätte man die Chance zu erkennen, dass beispielsweise die Kombination von einem Laborwert aus einer vergangenen Untersuchung mit einem aktuellen Symptom auf ein Risiko hindeutet, dass Sie in der Zukunft an einer bestimmten Krankheit erkranken. Ärzt:innen könnten dann mit gezielten Gegenmaßnahmen eingreifen.  

Derzeit sieht die Realität leider anders aus: Alle Beschwerden, mit denen man verschiedene Arztpraxen aufsucht, sind auf irgendeinem Papier in verschiedenen Ordnern dokumentiert oder auch in verschiedenen, zum Teil nicht einmal standardisierten, Datensilos.  

Gibt es die Technik, die nötig wäre, um Daten zentral zu speichern bereits? Oder müssen Krankenhäuser und Praxen hierfür massiv nachrüsten und investieren? 

Ich fürchte, man müsste technisch überall nachrüsten. Das hat sich auch in der Pandemie gezeigt. Die notwendigen technischen Möglichkeiten, so etwas allgemein umzusetzen, gibt es aber bereits. 

Sind andere Länder in diesem Aspekt fortschrittlicher?  

Im Ausland gibt es andere Datenschutzregelungen und auch eine andere ökonomische Herangehensweise. In Asien zum Beispiel werden Daten deshalb anders gespeichert und ausgewertet. Dafür gibt es dort teilweise erhebliche Defizite beim Thema Datenschutz, eine Vorbildfunktion für Deutschland hat Asien also nicht. Es gibt weltweit alle Extrema, ich halte den Mittelweg für den richtigen. 

Geht es um App-Tracking, Bonuskarten oder Cookies machen sich nur die Wenigsten Gedanken über Datenschutz. Wenn es hingegen um Gesundheitsdaten geht, schreien viele empört auf.  Wie passt das zusammen? 

Datenschutz wird in Bezug auf Gesundheitsdaten häufig missverstanden. Viele haben das Gefühl es würde Persönlichkeitsrechte durchbrechen, wenn man Gesundheitsdaten für die Forschung freigibt. Dabei werden solche Daten in der Wissenschaft nur datenschutzkonform, also anonymisiert behandelt. Datenschutz wird sehr häufig vorgeschoben, um entsprechende Kommunikation zu verhindern. Ich würde mir wünschen, dass die Menschen verstehen, dass wir in der Medizin nichts Böses mit ihren Gesundheitsdaten vorhaben. Im Gegenteil: Wir verwenden sie ausschließlich für gesundheitsbezogene Forschung, die den Patient:innen zugute kommt.  

Gibt es denn auf Seiten von Medizin, Krankenkassen und Politik Interesse an einem solchen Diskurs?  

Auf jeden Fall. „Disease Interception” wird eine wachsende Bedeutung beigemessen. Aber es gibt auch viele Fragen in dem Zusammenhang. Gerade was die gesetzliche Krankenversicherung angeht: Wie lässt sich „Disease Interception” in das Leistungsrecht einbetten? Wenn der Therapieansatz vor Ausbruch der Krankheit greift, kann man dann von Patient:innen sprechen? Oder spricht man von Kund:innen und Klient:innen?  

Wäre Disease Interception eine Kassenleistung - oder müsste das jede:r selbst bezahlen? 

Die gesetzliche Krankenversicherung beruft sich auf den relevanten Nutzen einer medizinischen Maßnahme, also auch auf die Verringerung von Morbidität und Mortalität, um zu entscheiden, ob eine Leistung in den Leistungskatalog aufgenommen wird. 

Ich gehe deshalb davon aus, dass die Kollegen nach Ablauf der auf zwei Jahren angesetzten Forschung zu dem Schluss kommen werden, dass man Disease Interception als eigene Leistungsart in das Versicherungsrecht mitaufnehmen sollte und die Leistung somit von der Solidargemeinschaft mitgetragen wird.

Zu Beginn des Gesprächs sagten Sie, ich würde wissen wollen, wenn ich später einmal an Alzheimer erkranke, weil man den Ausbruch der Krankheit vielleicht noch verhindern könnte. Wie ist das bei Krankheiten, die nicht heilbar sind – auch vor ihrem Ausbruch nicht. Kann ich mich als Patient:in dafür entscheiden, es nicht wissen zu wollen? 

Sie haben meines Wissens zum einen das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit und zum anderen das Grundrecht auf Nichtwissen.  

Wichtig ist, dass die Ärztin oder der Arzt die Patientin oder den Patienten aufklärt, sodass beide gemeinsam auf Augenhöhe entscheiden können, wie mit einem Risiko umgegangen wird. Dafür müssen Ärzt:innen entsprechend ausgebildet werden.  

Wann wird es ein Gesundheitssystem geben, das darauf ausgerichtet ist Krankheiten zu verhindern bevor sie ausbrechen? Sprechen wir hier eher von 10 oder 30 Jahren? 

Ich hoffe eher in zehn. Die Diskussion ist im vollen Gange. Wir müssen sie führen, unterstützen und weiter vorantreiben.  

Titelbild: Getty Images

Anke Diehl

Anke Diehl ist Chief Transformation Officer und Leiterin der Stabsstelle Digitalisierung an der Universitätsmedizin Essen. Vom German Medical Award wurde sie diesen Monat zur Medizinerin des Jahres 2021 ausgezeichnet.

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