Die Pandemie hat einen enormen sozialen Wandel ausgelöst: Was schulden Arbeitgeber:innen ihren Arbeitnehmer:innen jetzt?
„Arbeitgeber:innen schulden Arbeitnehmer:innen zwei Dinge“, so beginnt der Kommentar zu einem Beitrag von Charlie Warzel Ende vergangenen Monats. „Ein sicheres Arbeitsumfeld und den vereinbarten Lohn, der mindestens dem gesetzlichen Minimum entspricht.“
Auf den ersten Blick betrachtet, ergibt das Sinn: Arbeitnehmende sind keine Sklaven. Es steht uns frei, Verträge abzuschließen, diese Verträge auszuhandeln und das Unternehmen zu verlassen, wenn wir feststellen, dass die Bedingungen unseren Erwartungen widersprechen. Aber, wie Warzel betont, ist dies sowohl der Status quo als auch eine „unnötig fest verwurzelte Art, unser Arbeitsleben anzugehen“.
„Warum genau“, fragt Warzel, „sollte unsere Kultur eine derart berechnende und ausbeuterische Art der Beziehungen zwischen Arbeitgeber:innen und Arbeitnehmer:innen charakterisieren? Was wäre, wenn Arbeitgebende [...] etwas Besseres anstreben würden?“
Keine Fake-Nine-to-Fives mehr
Auslöser für das Gespräch zwischen Charlie Warzel und seinen Kommentatoren im vergangenen Monat war die Diskrepanz zwischen den „vereinbarten“ Arbeitszeiten und dem, was tatsächlich von Arbeitenden erwartet wird. Um neun Uhr morgens anfangen, pünktlich um 17 Uhr Feierabend machen, das Wochenende für sich haben – das mag für jeden in Ordnung sein, der eine Karriere mit Mittelmaß anstrebt. Wer jedoch das Ziel verfolgt, stetig aufzusteigen, der wird mehr als die vereinbarten vierzig Stunden arbeiten.
Der Grund dafür, dass Arbeitnehmer:innen dieses schlechte Geschäft so lange akzeptiert haben, liegt – abgesehen von einer Kultur, in der Überarbeitung seit langem die Norm ist – daran, dass es mit dem Versprechen einer gewissen Belohnung einhergeht, so Warzel: Irgendwann werden erschöpfte Arbeitnehmer:inen befördert, eine gewisse Sicherheit erlangen oder in Rente gehen. Es soll sich am Ende lohnen, seinen Beitrag zu leisten.
Aber sie wehren sich zunehmend gegen dieses Argument. Vor allem jüngere Arbeitnehmende fragen sich, ob das Versprechen in Wahrheit nur ein Schwindel ist. Was ist, wenn die erhoffte Karrierestabilität nie eintritt? Was ist, wenn sie dem Druck, so viel zu arbeiten, nicht um ihrer Zukunft Willen nachgeben, wie Warzel fragt – sondern nur, um eine Reihe von Aktionär:innen zu bereichern?
Die Enttäuschung über die Arbeit ist nichts Neues. Dennoch hat die Pandemie einen enormen sozialen Wandel ausgelöst. Mancherorts verhandeln die Beschäftigten um eine bessere Behandlung. Im Büro – oder bei der Arbeit von zuhause aus – hatten die Angestellten sowohl die Zeit als auch den Abstand, um über die Unternehmen nachzudenken, mit denen sie ihr Leben verbringen. Dinge wie Unehrlichkeit und Doppelmoral, auf die sie früher vielleicht nicht geachtet haben, sind nun schwieriger zu ignorieren.
Auch soziale Bewegungen haben dazu beigetragen, dass sich alles anders anfühlt. Connie Wang, leitende Redakteurin von Refinery 29, macht das Wiederaufleben von Black Lives Matter im vergangenen Jahr für einen Großteil des Wandels in der Arbeitsplatzkultur verantwortlich, den wir jetzt erleben:
„Unternehmen wie L'Oréal oder Amazon stellten sich der Kritik trotz der Tatsache, dass die eigenen Erfahrungen der schwarzen Mitarbeiter:innen etwas ganz anderes über die Kultur dieser Unternehmen aussagen. In der gesamten Geschäftswelt wurde der massive Widerspruch von Worten und Handlungen heuchlerisch und untragbar.”
Soziale Bewegungen wie Black Lives Matter oder Fridays For Future haben übergeordnete Sinnfragen in den Vordergrund gerückt.
Während frühere Generationen die Probleme in der Arbeitswelt aus der Perspektive des Einzelnen sahen (dem Arbeitgeber:innen nichts weiter schulden als ein sicheres Arbeitsumfeld und einen vereinbarten Lohn), sieht die heutige Belegschaft, so Wang, dieselben Probleme als makroökonomische Phänomene, die mit der Wirtschaft, der Geopolitik und der Umwelt zusammenhängen. „Wenn sie ein Problem sehen, ist es wahrscheinlicher, dass sie das gesamte System in Frage stellen. Und sie werden für ihr Recht kämpfen, nur von neun bis fünf zu arbeiten.“
Veränderungen passieren nicht über Nacht
Benjamin Pring, VP of Thought Leadership und Managing Director am Center for the Future of Work von Cognizant, sagt, dass es nicht so schnell geht. Als ich mich vor kurzem mit ihm zusammengesetzt habe, um darüber zu sprechen, wie sich die Arbeit in den nächsten Jahren weiter verändern wird, warnte er davor, auf rasanten Wandel zu hoffen:
„Man muss immer die Kräfte des Wandels gegen die Kräfte der Trägheit abwägen. Und die Kräfte der Trägheit [...] hängen mit grundlegenden, tiefgreifenden, wirtschaftlichen, sozialen und menschlichen Eigenschaften zusammen, die sich eben nicht so schnell ändern. Wir müssen immer noch unsere Fristen einhalten, unsere Vorgesetzten sowie Kund:innen zufriedenstellen, auch Rechnungen müssen bezahlt werden."
Pring bezeichnet die Pandemie nicht als Katalysator einer Revolution, sondern – für diejenigen unter uns, die das Privileg haben, hauptsächlich am Bildschirm zu sitzen – eher als eine Art Urlaub. Es hat einen Vorteil, sich morgens nicht anziehen zu müssen, nicht pendeln zu müssen. Aber das kann, genauso wie der Urlaub auch, nicht auf Dauer so gehen.
„Die Realität ist, dass wir in einem sehr wettbewerbsintensiven westlichen kapitalistischen Markt leben, der sich in der Spätphase befindet. Ein sehr aggressiver Markt. Und das sind die Fakten des Lebens.“
Was die Pandemie seiner Meinung nach verändert hat, ist die Art und Weise, wie wir über unser Arbeitsleben nachdenken, und wie bewusst wir entscheiden, wo und für wen wir arbeiten. Bevor die Pandemie einsetzte, folgten Angestellte immer noch dem gleichen Muster: nach dem College in eine große Stadt ziehen, für ein namhaftes Unternehmen arbeiten und ihren Beitrag leisten. Aber jetzt, so sagt er, „haben wir die Möglichkeit, über die Funktion der:s Einzelnen, des Unternehmens und der Gesellschaft nachzudenken.”.
Vielleicht hat die Pandemie also mehr Veränderungen mit sich gebracht als Pring zunächst angenommen hatte. Dabei denkt er an ein Team, welches mittwochs und donnerstags zusammenkommt, während die Restwoche frei geplant werden kann – je nach Bedarf etwa für die Beantwortung von E-Mails, für Telefongespräche mit Kund:innen oder für konzentriertes Arbeiten.
Ortsunabhängiges Arbeiten hat enorme Implikationen für die Arbeit selbst, aber auch für die Orte an denen wir arbeiten.
Dies könnte zur größten Veränderung von allen führen: dem Wachsen kleinerer Städte. New York, Berlin und Stockholm werden weiterhin teuer bleiben, aber mit der zunehmenden Konzentration auf Remote Work, so Pring, werden sich mehr junge Menschen dafür entscheiden, ihre Karrieren an Orten zu beginnen, an denen sie bequemer leben können. Anstatt von einer beengten Wohnung am Rande von Brooklyn eine Stunde und mehr zu einem Büro in Midtown Manhattan zu pendeln, werden sie sich vielleicht Orte wie Portland oder Maine aussuchen.
„Städte sterben nicht aus, sie verändern sich nur. Die zugrunde liegende Dynamik des Wohlstands und der Möglichkeiten an Orten wie New York und London ist für nächste Generationen aufgrund einer neuen Arbeitsweise mit anderen Plattformen, Tools und Technologien unzugänglich geworden.”
Hoffen wir, dass diese neuen Plattformen, Tools und Technologien die Arbeit für uns alle zu einer besseren Erfahrung machen werden.
Titelbild: Tim Gouw/Unsplash