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  • 23.02.2022
  • Fabian Kretschmer

Wie Chinas Jugend die Tech-Industrie herausfordert

Wer bei einem der großen Internetunternehmen arbeiten möchte, muss den fürstlichen Lohn mit brutalen Arbeitszeiten eintauschen. Immer mehr junge Chines:innen machen da nicht mehr mit. 

Der tragische Tod des 25-Jährigen aus Wuhan hat das sprichwörtliche Fass zum Überlaufen gebracht. Der Chinese, einer von rund 2.400 „Content Moderator:innen“ bei der Video-Sharing-Plattform „Bilibili“, ist Anfang Februar nach einer Hirnblutung im Krankenhaus verstorben. Zuvor soll er während der vorangegangenen Ferienwoche sechs Nachtschichten hintereinander durchgearbeitet haben, jeweils von neun Uhr abends bis neun Uhr morgens. Und auch wenn das Unternehmen „Bilibili“ sämtliche Anschuldigungen zurückwies, löste der Vorfall auf Chinas sozialen Medien eine heftige Debatte über die brutalen Arbeitsbedingungen der Tech-Branche aus.

„Wir tauschen im Grunde unser Leben für Geld. Es war für mich normal, zwölf bis dreizehn Stunden pro Tag zu arbeiten“, schrieb ein Poster auf der Online-Plattform Weibo. In nur wenigen Tagen folgten Millionen weiterer Beiträge.

Die Nachricht hat vor allem deshalb einen Nerv getroffen, weil es sich keineswegs um einen Einzelfall handelt. In den vergangenen Jahren kam es immer wieder zu Todesfällen in der Tech-Branche, zuletzt ist eine 22-jährige Arbeiterin der E-Commerce-Plattform Pinduoduo nach einer Nachtschicht auf dem Nachhauseweg ohne Vorwarnung zusammengebrochen.

„996“ - wenn zwölf-Stunden-Schichten zur Normalität werden

Lange Jahre war die Industrie geradezu stolz auf ihre außergewöhnliche Leistungsbereitschaft. „996“ lautet das Schlagwort, das die gängigen Arbeitszeiten in Start-ups und Internetimperien auf den Punkt bringt: von neun Uhr morgens bis neun Uhr abends, sechs Tage die Woche. Ausgerechnet Alibaba-Gründer Jack Ma hat das Mantra populär gemacht: Wer bei seinem Unternehmen anfangen wolle, müsse sich schon auf zwölf-Stunden-Schichten einstellen: „Warum sonst willst du zu Alibaba?“.

Oftmals geht es dabei nicht nur um Effizienz: Eine Grundregel für junge Angestellte lautet, dass sie nicht vor ihrem Chef das Büro verlassen sollten – ganz gleich, ob sie ihren Dienst bereits erledigt haben. Dass nach chinesischem Arbeitsrecht maximal acht-Stunden-Schichten mit maximal drei Überstunden pro Tag zugelassen sind, kümmert die Arbeitgeber:innen wenig: Unabhängige Gewerkschaften gibt es in China nicht, und auch Medien können nicht frei über arbeitsrechtliche Skandale berichten.

Die andere Seite der Medaille ist jedoch eine interessante Tätigkeit in einem dynamischen Unternehmen, die meist fürstlich entlohnt wird. Auch in den unteren Ebenen erhalten die Bürokräfte locker umgerechnet 3.000 Euro Monatslohn – rund das doppelte vergleichbarer Jobs in staatlichen Betrieben. Und der Gehaltscheck, gepaart mit relativ schnellen Aufstiegschancen, ließ viele Chines:innen allzu gerne über die Schattenseiten hinwegschauen – zumindest bislang.

Bei den Millennials regt sich Widerstand


Denn mittlerweile ist die Frustrationstoleranz unter den Millennials deutlich gesunken.
Eine junge Chinesin, die beim E-Commerce-Konzern „JD.com“ in Peking anheuerte, beschreibt ihre gut dotierte Stelle als einzige Leidensgeschichte: Vor zehn Uhr abends verließ sie unter der Woche selten das Büro, am Samstag musste sie zusätzlich Arbeitsberichte für ihren Chef schreiben und der Sonntag musste zur Regeneration im Bett herhalten. Auch wenn ihr klar sei, dass sie es als Frau um die 30 auf dem chinesischen Arbeitsmarkt schwer haben werde, kündigte sie die Stelle.

Und damit ist die junge Chinesin kein Einzelfall. Innerhalb der „Generation Z“ gibt es einen unglaublichen „Run“ auf die nationale Beamtenprüfung, im Chinesischen „guokao“ genannt. Allein im letzten Dezember haben sich auf gerade einmal 31.200 Stellen über 2,1 Millionen Universitätsabsolvent:innen beworben. Die staatlichen Jobs mögen zwar tendenziell dröge und bescheiden bezahlt sein, dennoch bieten sie, was derzeit wieder hoch im Kurs steht: Sicherheit und Stabilität.

Denn den meisten Tech-Angestellten ist ohnehin klar, dass ihr ordentlicher Lohn keine für immer gültige Lebensversicherung ist: Ab Mitte 40 würden viele Angestellte trotz fachlicher Kompetenz reihenweise gekündigt und durch günstigere, „belastbarere“ Arbeitskräfte Anfang 20 ersetzt.

Doch es mehreren sich die Anzeichen, dass sich die Arbeitsverhältnisse in der Branche allmählich auch von innen bessern. Denn der öffentliche Widerstand wird immer größer. Im letzten Jahr haben sich vier chinesische Programmierer:innen Anfang 20 für ihr Projekt „Workers Lives Matter“ zusammengetan. Dieses bestand im Grunde aus einer simplen Excel-Tabelle, das wie ein Google-Dokument öffentlich zugänglich war: Darin konnten Chinas Tech-Worker freiwillig und anonym ihre Arbeitszeiten eintragen. 14 Stunden pro Tag waren keine Seltenheit. Das Projekt erreichte in nur wenigen Tagen derart große Popularität, dass die Zensoren schlussendlich einschritten – und den Zugang zu der Online-Tabelle sperrten.

Leistungsverweigerung ein Privileg?


Die Zentralregierung in Peking fürchtet Bürgerrechtsbewegungen, doch ganz ignorieren kann sie das Problem auch nicht. Die Parteiführung möchte schlussendlich einen schmalen Drahtseilakt vollführen: Einerseits erwartet sie von ihrer Jugend, sich weiterhin mit Tatendrang und Aufopferung ins gesellschaftliche Hamsterrad zu stürzen. Dennoch weiß sie ebenso, dass brutale Arbeitsbedingungen wie im Manchester-Kapitalismus schlussendlich die demografische Krise des Landes nur weiter befeuern werden: Wenn die Jugend nicht ein Mindestmaß an Work-Life-Balance genießt, wird die ohnehin niedrige Geburtenrate nur noch weiter sinken.

Die urbanen Millennials reagieren bereits unlängst mit Leistungsverweigerung. Viele von ihnen frönen dem „Tangping“-Konzept, was so viel wie „flachliegen“ bedeutet. Statt Karriere machen und Kinder kriegen ziehen sie sich lieber ins Private zurück und führen einen minimalistischen Lebenswandel. Dennoch ist die „Tangping“-Bewegung vor allem ein Privileg der gehobenen Mittelschicht: Die meisten Chines:innen können es sich schlicht nicht leisten, auf lange Arbeitszeiten zu verzichten.

Fabian Kretschmer

Fabian Kretschmer arbeitet seit 2019 als China-Korrespondent mit Sitz in Peking. Zuvor arbeitete er fünf Jahre als Journalist für deutschsprachige Medien in Seoul, Südkorea. In seiner Kolumne schreibt er einmal im Monat über ungewöhnliche Entdeckungen und überraschende Einblicke in die Tech-Welt Asiens.

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