Die Volksrepublik muss 1,4 Milliarden Menschen ernähren. Sie setzt dabei vor allem auf technologische Lösungen.
Als Alibaba-Gründer Jack Ma im letzten Sommer aus der Öffentlichkeit verschwand, rätselten viele Medien, wo sich Chinas bekanntester Unternehmer gerade aufhält. Die Aufsichtsbehörden hatten das Internetimperium des 57-Jährigen zuvor ins Visier genommen, und viele Beobachter:innen spekulierten, dass Ma möglicherweise gar in einem fensterlosen Kerker kauert.
Stattdessen wurde der reichste Chinese wenige Wochen später in niederländischen Gewächshäusern und Getreidefeldern gesichtet. In Europa besuchte Jack Ma mehrere Forschungsinstitute und Start-ups, die sich mit Pflanzenzucht und Landwirtschaft auseinandersetzen. Ma sagte damals, dass er das traditionelle Wissen der Agrarwissenschaft mit den Möglichkeiten der digitalen Technologien paaren möchte, um auf diesem Weg „enormes Potenzial“ für die Modernisierung der Landwirtschaft in China freizusetzen.
Was auf den ersten Blick überraschend wirkt, ergibt auf den zweiten Blick umso mehr Sinn: „Smart farming“ ist im Reich der Mitte nicht nur ein wichtiges strategisches Ziel, sondern auch ein boomendes Geschäftsfeld.
Um das zu verstehen, muss man zunächst die Historie des Landes näher betrachten: Nahrungsmittelversorgung ist in der Volksrepublik vor allem deshalb eine besonders sensible Angelegenheit, da die meisten Chines:innen im gehobenen Alter Hunger nicht nur aus Geschichtsbüchern oder Fernsehdokumentationen kennen, sondern vor allem aus eigener Erfahrung.
Vor 60 Jahren noch litt das Reich der Mitte unter der größten Hungersnot des 20. Jahrhunderts. Diese war eine menschengemachte Katastrophe: Mao Tsetung wollte mit seinem „Großen Sprung nach vorn“ (1958–1961) die Industrialisierung des noch jungen Staates vorantreiben. Doch stattdessen führten die Maßnahmen zur größten Tragödie in der modernen Geschichte des Landes: Er ließ Landwirtschaftsbetriebe kollektivieren, Bauern zur Errichtung von Infrastrukturprojekten vom Feld abziehen und ihre Ausrüstung in Minihochöfen zu Stahl schmelzen. Manche Forscher:innen gehen davon aus, dass bis zu 50 Millionen Chines:innen damals einen qualvollen Hungertod starben.
„Smart Farming" ist für China mehr als Spielerei
Nur so ist zu erklären, dass Nahrungsmittelversorgung von den Parteikadern in Peking als Angelegenheit der nationalen Sicherheit behandelt wird. Um jeden Preis soll verhindert werden, dass sich die Grausamkeit der Geschichte wiederholt.
Wie ernst die Regierung das Thema behandelt, habe ich selbst im letzten Sommer erlebt. Als ich einen der größten Getreidespeicher des Landes besuchen wollte, fühlte ich mich schon bald wie vor einem nationalen Goldspeicher: Die Anlage des Staatsunternehmens „Sinograin“ in der Neun-Millionen-Stadt Jinan war auf keiner Online-Karte verzeichnet. Schon beim Nähern des abgezäunten Geländes wurde ich von bestimmt auftretenden Mitarbeitern in Uniform in Empfang genommen. Und obwohl mein Termin mit den Behörden zuvor abgesprochen war, benötigte es über ein Dutzend weiterer Telefonate und Überredungskunst, ehe ich zumindest einen kleinen Teil des Speichers sehen konnte: ein paar Infotafeln und Propaganda-Banner. Alles andere sei streng geheim, wurde mir erzählt.
Die Ernährung der eigenen Bevölkerung ist dabei eine der größten Errungenschaften des Landes: China beheimatet 1,4 Milliarden Menschen – fast ein Fünftel der Weltbevölkerung –, doch nur zehn Prozent aller landwirtschaftlich nutzbaren Flächen des Planeten. In den Vereinigten Staaten hingegen herrschen im Vergleich dazu paradiesische Zustände: Dort leben nur vier Prozent der globalen Bevölkerungin einem Staat, der 16,5 Prozent der Agrarflächen bereitstellt.
Und die Lage in China verschärft sich zunehmend. Im Zuge des rasanten Wirtschaftsaufstiegs gingen etliche Ackerflächen aufgrund der Umweltzerstörung verloren, etwa durch Kontaminierung giftiger Metalle. Die langfristig größte Bedrohung für die Bauern ist der Klimawandel, der in immer kürzeren Abständen zu extremen Fluten und drastischen Dürren führt. Wie China die Nahrungsversorgung sicherstellen kann, war daher auch vor wenigen Wochen das vielleicht dominierende Thema des Nationalen Volkskongress in Peking.
Die Antwort auf all diese drängenden Fragen sucht die Regierung in der technologischen Entwicklung. „Smart farming“ ist in China mehr als eine Spielerei, sondern ein strategisches Ziel, das mit hohen Subventionen staatlich gefördert wird. Mithilfe von Tech möchte man zwei Probleme auf einmal lösen: den Mangel an Arbeitskräften und die niedrige Produktivität der heimischen Bauernbetriebe.
In der ostchinesischen Provinz Jiangsu laufen derzeit etliche Pilotprojekte, in denen erfolgreiche Modelle getestet werden – etwa „hydroponische Selbstbepflanzungsanlagen“. Gemeint sind damit riesige Teichanlagen, die mit nährstoffreichen Lösungen gefüllt sind. Darin schwimmen Setzlinge, die durch Sensoren automatisch an den Rand geschoben werden, sobald sie die nötige Größe fürs Ernten erreicht haben. Ebenso setzen bereits etliche Betriebe selbstfahrende Mähdrescher ein, oder auch unbemannte Maschinen zum Pflanzen von Reis – eine aufreibende und arbeitsintensive Tätigkeit.
Zudem sollen Computeranlagen den Landwirt:innen der Zukunft sämtliche Daten aufs Handy liefern – vom Schädlingsbefall der Pflanzen über den PH-Wert der Bewässerung bis hin zur Luftfeuchtigkeit im Gewächshaus. Und schon jetzt wird das Sprühen von Pestiziden oftmals von Drohnen erledigt.
Gleichzeitig haben die Zukunftstechnologien die wirtschaftliche Existenz von vielen Landwirten revolutioniert. Diese hängen nicht mehr von großen Unternehmen ab, sondern brauchen nicht mehr als ein Smartphone, um ihre eigenen Produkte an die Kundschaft zu bringen, die oftmals mehrere hundert Kilometer entfernt lebt. Via Live-Streaming wird die Ernte vermarktet, und auf den E-Commerce-Plattformen wird sie verkauft.
„Taobao-Dörfer“ werden solche Orte im Chinesischen genannt – in Anspielung an die gleichnamige Shopping-Plattform. Man versteht darunter einst rückständige Dorfgemeinschaften, die es dank der Digitalisierung zu beachtlichem Wohlstand gebracht haben. Während meiner Recherchereisen habe ich etliche von ihnen besucht. Viele der Neu-Unternehmer:innen haben zuvor als Arbeitsmigranten in den Fabriken der Städte geschuftet. Doch als in ihren Heimatprovinzen erstmals stabile Internetverbindungen und Smartphones Einzug erhalten haben, sahen sie die Möglichkeit, sich eine wirtschaftliche Existenz daheim aufzubauen.
Für China sind die Landwirte nicht weniger als das Rückgrat der Volkswirtschaft. Erst vor wenigen Wochen sagte Staatschef Xi Jinping beim Nationalen Volkskongress in Peking, dass die „Reisschüsseln des chinesischen Volks“ unbedingt mit heimischem Getreide gefüllt sein müssten. Denn spätestens seit der Corona-Pandemie möchte man die Abhängigkeit von globalen Lieferketten, die sich in den vergangenen zwei Jahren als überaus fragil herausgestellt haben, deutlich reduzieren. Und auch der Krieg in der Ukraine hat die Denkweise der Chines:innen bestärkt, schließlich hat die Volksrepublik ein Drittel seines Mais sowie große Mengen an Gerste und Sonnenblumenöl aus der Ukraine importiert. Künftig soll das Essen nach Möglichkeit aus eigenem Anbau stammen – mit Hilfe aller technischen Hilfsmittel, die die Digitalisierung hervorgebracht hat.