Deutsch English
  • Deutsch English
  • Tech of Tomorrow
  • Morals & Machines
  • Burn to Learn
  • Think Tanks
  • Über uns
  • 20.10.2021
  • Fabian Kretschmer

Wenn das Internet zum Intranet wird

China isoliert sich zunehmend – nicht nur politisch, sondern vor allem auch online. Dass mit LinkedIn der letzte westliche Online-Anbieter Adieu sagt, passt nur ins Gesamtbild.

Wer die vergangenen zwei Jahre nicht in China verbracht hat, kann die radikal zunehmende Isolation des Landes möglicherweise rational begreifen, aber unmöglich emotional erfassen. Ich könnte an dieser Stelle eine offizielle Statistik anführen, etwa dass allein in Nordrhein-Westfalen doppelt so viele Ausländer:innen leben wie unter den 1,4 Milliarden Chines:innen. Doch noch weitaus aufschlussreicher sind die persönlichen Erfahrungen der letzten Monate: Wann immer ich auf Reisen außerhalb von Peking und Shanghai bin, erwartet mich an der Hotelrezeption eine klassische 50/50-Situation. Manchmal wird meine Buchung akzeptiert, genauso oft wird sie abgelehnt – und zwar nur, weil ich keine chinesische Staatsbürgerschaft besitze.

Dass China seine Pforten dichtmacht, lässt sich nicht erst mit den Grenzschließungen im Zuge der Corona-Pandemie beobachten. Und es ist auch keine Entwicklung, die sich nur auf den Reiseverkehr oder die Skepsis gegenüber Ausländer:innen beschränkt. Am drastischsten manifestiert sich die von der Staatsführung verordnete Wagenburgmentalität nämlich im Internet.

Vor rund 550 Jahren ließen die Kaiser der Ming-Dynastie eine „Große Mauer“ nördlich von Peking errichten, um das Land vor den barbarischen Reiterhorden aus der Mongolei zu schützen. Seit der Jahrtausendwende hat die kommunistische Parteiführung eine ganz ähnlich funktionierende „Great Firewall“ gebaut, die als virtueller Befestigungswall rund um das Reich der Mitte zu verstehen ist: Unerwünschte Nachrichten, Informationen und Ideen sollen draußen bleiben.

Praktisch jede Online-Plattform, die bei uns in Deutschland zum Alltag gehört, ist in China gesperrt: von WhatsApp über Facebook bis hin zu Twitter. Auch Instagram ist in der Volksrepublik verboten, genau wie die Dienste von Google, Wikipedia und YouTube. Die großen angelsächsischen Nachrichtenseiten (BBC, New York Times, Wall Street Journal), sind ohnehin bereits seit Jahren illegal, doch unlängst sind auch die meisten deutschsprachigen Online-Auftritte von Tagesschau bis zur Süddeutschen nicht mehr aufrufbar. Besonders absurd wird es bei Skype, Slack oder Tinder – auch diese Apps lassen sich nur installieren, wenn man ein via ausländischer Handynummer registriertes Apple-Konto besitzt. 

LinkedIn war die letzte große westliche Plattform in China


Dementsprechend wenig überraschte die Nachricht, die Mitte Oktober aufploppte: LinkedIn werde sich aufgrund eines „deutlich schwierigeren Arbeitsumfelds und höheren Compliance-Anforderungen“ aus dem chinesischen Markt zurückziehen, wie Vize-Präsident Mohak Shroff in einer Stellungnahme schrieb. Was der Firmenvorstand der Online-Plattform eigentlich mit seinen euphemistischen Umschreibungen meint, ist die chinesische Zensur. Und er liefert den Beweis dafür gleich mit: In der chinesischsprachigen Stellungnahme wurden die oben genannten Zitatpassagen einfach ausgelassen.

LinkedIn muss nun also als letzte große Online-Plattform aus dem Westen das Land verlassen, weil es immer mehr zwischen die Fronten eines geopolitischen Konflikts gerät, aus dem sich auch scheinbar neutrale Unternehmen nicht mehr raushalten können: Auf der einen Seite hatten die chinesischen Behörden vom Microsoft-Tochterunternehmen verlangt, sämtliche User-Posts zu kritischen Themen (Hongkong, Xinjiang, Taiwan) für die chinesischen Nutzer:innen zu löschen. Auf der anderen Seite braute sich zeitgleich innerhalb der amerikanischen Zivilgesellschaft ein Shitstorm zusammen, weil sich LinkedIn der Propaganda eines diktatorischen Regimes beugte.  „Ehrlich gesagt ist es ein Wunder, dass LinkedIn in China überhaupt so lange überlebt hat“, kommentierte Kendra Schaefer von der Politikberatung „Trivium China“ auf ihrem Twitter-Account: „Soziale Netzwerke, die in China operieren, geraten zunehmend in ein unmögliches Dilemma zwischen chinesischen Zensurregeln und westlichen Werten.“

Viele Aktivist:innen verbanden mit dem Aufkommen des Internets die Hoffnung auf Demokratisierung, Transparenz und freien Zugang zu Informationen. Zuletzt keimte jene – rückblickend naive – Vorstellung vor rund einer Dekade auf, als sich die Jugend beim arabischen Frühling mit Hilfe sozialer Medien vernetzte, um gegen despotische Diktatoren zu rebellieren. Mittlerweile wissen wir natürlich wesentlich besser über die Schattenseiten der Technologie Bescheid: von Filterblasen bis hin zur digitalen Überwachung.

Doch in wohl kaum einem anderen Land der Welt hat die Staatsführung die Ursprungsutopie des Internets so radikal in sein genaues Gegenteil verkehrt wie in China. Wer beispielsweise auf Baidu Baike – dem chinesischen Äquivalent der Online-Enzyklopädie Wikipedia – nach dem „Großen Sprung nach vorn“ sucht, findet ein paar belanglose Paragraphen zur damaligen Industrialisierungskampagne von Mao Tse-tung. Dass diese jedoch zur größten Hungersnot des 20. Jahrhunderts mit bis zu 50 Millionen Toten geführt hat, wird mit keinem Wort erwähnt. 

Katz-und-Maus-Spiel mit den Zensoren


Auch die Internierungslager in der Region Xinjiang, eines der schwerwiegendsten Menschenrechtsverbrechen unserer Zeit, ist im chinesischen Netz vollkommen inexistent. Genau wie sämtliche Beiträge zu den Vertuschungen der Regierung zu Beginn der Coronapandemie in Wuhan längst ausradiert sind. Dies sind nur drei Beispiele unter unendlich vielen, die allesamt belegen: Der hocheffiziente Zensurapparat entscheidet darüber, welche Informationen geduldet werden – und welche gelöscht werden.

Es ist ein gefährlicher Trend, das sich Chinas streng abgekoppeltes Internet mittlerweile nur mehr als Intranet bezeichnen lässt. Natürlich findet insbesondere die technisch versierte Jugend immer wieder Online-Nischen, doch beim Katz-und-Maus-Spiel mit den Zensoren stehen sie langfristig auf verlorenem Posten. Die Blogger:innen von Chaoyang Trap, einer Online-Publikation über kulturelle Zeitgeist-Phänomene in China, haben bei ihrer jüngsten Recherche festgestellt, dass es mittlerweile eigentlich nur mehr eine einzige Online-Plattform gibt, die einen freien Austausch von Ideen zwischen China und dem Rest der Welt ermöglicht: die Spiele-Community Steam.

Hinter der „Great Firewall“ bleiben sonst nur mehr die chinesischen Apps, allen voran Wechat. Erst vor wenigen Tagen postete dort ein befreundeter Wirtschaftsvertreter von seinem Treffen mit dem chinesischen Handelsminister. Wie beiläufig fügte der deutsche Expat dort an: „Ich war der erste Ausländer, den er seit seiner Ernennung als Minister im letzten Jahr getroffen hat“. Ebenjener Regierungsvertreter ließ hingegen noch am selben Tag über seine sozialen Medien eine Botschaft verkünden, die von der Realität gar nicht weiter entfernt sein könnte: „Chinas Tür wird sich immer weiter öffnen“.

Titelbild: Luftaufnahme der Chinesischen Mauer. Quelle: Getty Images

Fabian Kretschmer

Fabian Kretschmer arbeitet seit 2019 als China-Korrespondent mit Sitz in Peking. Zuvor arbeitete er fünf Jahre als Journalist für deutschsprachige Medien in Seoul, Südkorea. In seiner Kolumne schreibt er einmal im Monat über ungewöhnliche Entdeckungen und überraschende Einblicke in die Tech-Welt Asiens.

Das könnte dir auch gefallen

  • Metaverse
  • 24.09.2021

Mein Meta-Ich

Die großen Tech-Konzerne planen das Metaversum als virtuelle Zweitwelt. Tatsächlich leben wir längst darin.

  • Robotics
  • 07.09.2021

Automatisch aus der Krise?

Zuletzt wurde viel darüber spekuliert, dass die Pandemie eine Automatisierungswelle auslöst. Doch für den Wandel in der Wirtschaft müssen die Voraussetzungen stimmen.

  • Tech of Tomorrow
  • 15.11.2021

Effizientere Algorithmen fürs Klima

Digitalisierung gilt als Heilsbringer für mehr Nachhaltigkeit. Doch konsequent mitgedacht wird das nicht. 

© 2022 ada
Impressum
Datenschutz