...wir Teile der Realität ausblenden könnten? Ein Blick auf die Versprechungen der „Diminished Reality“-Technologie.
Ein freier Tag. Eine Liege im Garten, die Sonne zaubert golden flackernde Muster aufs Gras, Grillen zirpen, Grashalme wiegen sanft im lauen Sommerwind. Die perfekte Idylle – wenn da nicht die kreischende Motorsäge vom Nachbargrundstück wäre, die unermüdlich Holz zerkleinert.
Es sind Tage wie diese, für die Noise-Canceling-Kopfhörer erfunden wurden. Rein mit den Ohrstöpseln – und schon verschluckt eine dumpfe Stille das störende Geräusch. Herrlich, diese Ruhe. Nach ein paar Minuten allerdings setzt Ernüchterung ein. Nicht nur die Motorsäge, auch das Vogelzwitschern, das Grillenzirpen und das leise Flüstern des Windes ist verschwunden.
Wie wäre es, wenn wir selbst entscheiden könnten, welche Teile der Geräuschkulisse um uns herum wir entfernen möchten? Oder, noch besser: Wenn wir auch visuelle Störelemente einfach aus unserer Wahrnehmung verbannen könnten – etwa den Wäscheständer im Garten? Was, wenn wir „Wünsch-dir-was“ mit der Realität spielen und uns die Welt zusammensetzen könnten, wie sie uns gefällt?
Genau das soll künftig möglich sein. Jedenfalls wenn man den Verheißungen der sogenannten „Diminished Reality“ (DR) Glauben schenkt. Die soll Nutzer:innen eine reduzierte Version der Realität ermöglichen. Und zwar nicht nur mit minimierter Akustik wie beim Noise Canceling, sondern auch durch Veränderung der visuellen Eindrücke. Ähnlich wie Bildbearbeitungsprogramme Fotos retuschieren, sollen DR-Anwendungen in Echtzeit Inhalte aus der wahrnehmbaren Umgebung entfernen.
Dass das nicht nur kühne Fantasie, sondern längst möglich ist, konnten Forscher:innen bereits mit Prototypen demonstrieren. Wolfgang Broll und Jan Herling von der Technischen Universität Ilmenau entwickelten bereits 2010 eine Software, die einzelne Gegenstände aus Live-Videostreams entfernen konnte. Mithilfe von Objekterkennung identifizierte sie die Umrisse der zu entfernenden Fläche im Bild und ersetzte die Pixel durch die umgebende sichtbare Bildinformation. Auf diese Weise ließen die Forscher etwa ein Handy vom Tisch oder einen Mercedes-Stern von einer Felge verschwinden. Beim genauen Hinsehen erkannte man damals jedoch noch verschwommene Stellen im manipulierten Bild.
Ein Jahrzehnt später ist die Technologie dank Fortschritten in der künstlichen Intelligenz viel weiter: Mithilfe von Tiefensensoren wird die Umgebung analysiert und auf Grundlage der so gewonnenen Daten ein 3D-Modell erstellt. So lassen sich auch Gegenstände aus komplexen Umgebungen mit mehreren Ebenen entfernen. „Mit Deep Learning-Ansätzen können wir sehr viel qualitativ hochwertigere Eindrücke generieren und plausiblere Ergebnisse erzeugen“, sagt Wolfgang Broll, der an der TU Ilmenau das Fachgebiet „Virtuelle Welten und Digitale Spiele“ leitet.
Gebäude abreißen per Knopfdruck
Auf diese Weise entfernte ein Forscherteam im japanischen Osaka bewegliche Objekte wie Fußgänger:innen und Autos in Echtzeit von einem Livestream. Die Ergebnisse ihres Experiments veröffentlichten sie im vergangenen Jahr in der Fachzeitschrift „Environmental Modelling & Software“. Mit der Technik ließen sich zum Beispiel städtische Umbaumaßnahmen visualisieren: Wie sähe die Straße aus, wenn man zwei Gebäude abreißen und sie für Autos sperren würde?
Wer dann noch wissen möchte, wie es aussehen würde, wenn man die freigewordenen Flächen bepflanzt und die Straße zu einem breiten Fahrradweg umbaut, kann wiederum mit Augmented Reality Objekte zur Umgebung hinzufügen. „Im Zusammenspiel mit AR liegt die Stärke von Diminished Reality“, erklärt DR-Forscher Broll. Das Ergebnis dieses Zusammenspiels nennt sich „Mediated Reality“: die „technologiebasierte Veränderung der individuellen Wahrnehmung der Umgebung“.
Das ist nicht nur für Stadtplaner:innen interessant, sondern zum Beispiel auch für die Inneneinrichtung. Bereits jetzt lassen sich mit Augmented Reality Möbel ins eigene Wohnzimmer projizieren. Künftig könnte man mit entsprechenden Apps ganze Wände virtuell einreißen, Zimmer freiräumen oder Schränke austauschen, bevor man voreilig mit dem Umbau loslegt. In diesem Fall verfälscht Diminished Reality nicht die Realität, sondern eröffnet vielmehr einen Blick auf mögliche künftige Versionen von ihr.
Im ada-Podcast diskutieren Finn Blug und Milena Merten über die Chancen und Risiken von Diminished Reality.
Die Vollendung der Filterblase
DR-Anwendungen könnten aber nicht nur für kommerzielle, sondern auch für medizinische Zwecke genutzt werden. Bereits jetzt setzen viele Menschen mit Autismus oder Angststörungen auf Noise-Canceling-Kopfhörer – eine auditive Art von Diminished Reality – um lauten Geräuschen in der Umgebung zu entfliehen. Wäre DR zusätzlich in Head Mounted Displays oder smarten Brillen integriert, ließen sich auch visuelle Stressfaktoren in der Umwelt ausblenden.
In der Breite eingesetzt, bergen diese Möglichkeiten allerdings nicht nur Chancen. Neben dem offensichtlichen Sicherheitsproblem, das entsteht, wenn wir uns mit eingeschränkter Wahrnehmung in der Öffentlichkeit bewegen, wirft die Technologie auch ethische Fragen auf: Wenn wir uns die Realität nach eigenem Belieben anpassen können, verlassen wir dann das gemeinsame Verständnis von der Wirklichkeit?
Die Futurologin Amy Webb zeichnete kürzlich bei der Tech-Konferenz South by Southwest ein Schreckensszenario von einer Zukunft, in der DR in den Alltag integriert ist: „Was, wenn wir den Müll auf der Straße visuell entfernen, statt ihn aufzusammeln? Was, wenn wir Obdachlose visuell auslöschen, statt mit ihnen zu interagieren? Wird uns Diminished Reality irgendwann für die tatsächliche Realität desensibilisieren?“, fragte sie.
Was Webb beschreibt, wäre die perfekte Vollendung der Filterblase, in der sich viele von uns bereits jetzt bewegen. Wir entscheiden uns täglich, bewusst oder unbewusst, bestimmte Probleme zu übersehen, auch wenn sie offensichtlich vor uns liegen, und wegzuhören, wenn wir eigentlich genau hinhören müssten. DR-Technologie könnte uns künftig ermöglichen, Probleme in unserem Umfeld im wahrsten Sinne des Wortes aus unserer Wahrnehmung zu verbannen.
Bislang stecken die meisten DR-Anwendungen in der Forschungsphase und sind noch nicht in massentauglichen Anwendungen verbaut. Doch laut VR-Forscher Wolfgang Broll sind die technischen Voraussetzungen längst gegeben: „Jetzt muss man sehen, was die Leute daraus machen.“
Titelbild: Ivy Barn / Unsplash