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  • 19.10.2021
  • Finn Blug

Warum uns muskulöse Avatare stärker machen

Der Medieninformatiker Martin Kocur erforscht, wie Avatare aussehen müssen, damit Menschen in der virtuellen Realität bessere Leistung erbringen können. Im Interview erklärt er, wie sich ein muskulöseres Erscheinungsbild auf unsere sportliche Leistungsfähigkeit auswirkt.

Tech-Utopisten zufolge werden wir künftig viel Zeit im sogenannten Metaversum verbringen, einer übergeordneten, virtuellen Realität, wie wir sie schon jetzt teilweise aus der Gaming-Welt kennen. Kommt es tatsächlich so, wie sich Mark Zuckerberg oder andere Metaverse-Verfechter:innen die Zukunft vorstellen, wird auch das Aussehen unserer virtuellen Avatare immer wichtiger. Studien zufolge wirkt sich das Aussehen von Avataren in virtuellen Umgebungen auch auf unsere reale Selbstwahrnehmung aus. Aber auch unsere körperliche Leistungsfähigkeit lässt sich durch das Avatardesign in der virtuellen Realität beeinflussen. Wie das geht, erklärt der Medieninformatiker und Avatarforscher Martin Kocur im Interview.

Herr Kocur, wie sah der letzte Avatar aus, den Sie in einer virtuellen Umgebung genutzt haben?

Martin Kocur: Wenn ich Avatare bastele, versuche ich sie immer so aussehen zu lassen, wie ich selbst bin. Das ist natürlich paradox, weil man in Virtual Reality aussehen kann, wie man möchte – aber ich fühle es dann mehr. Alles, was um mich herum passiert, beziehe ich dann noch mehr auf mich. Viele Menschen wählen aber auch andere Avatare: Ein Freund von mir spielt Cyberpunk bewusst mit einem weiblichen Avatar.

Warum?

Ein Gender-Swap ist durchaus beliebt und da gibt es natürlich Theorien, die erklären sollen, warum Nutzer:innen das machen. Weil sie es vielleicht aus einer anderen Perspektive erleben wollen. Oder weil sie fühlen wollen, wie sich Frauen fühlen, wenn sie in einem MMORPG (Online-Rollenspiel, in dem mehrere tausend Spieler gleichzeitig in einer dauerhaften, virtuellen Welt unterwegs sind, Anm. d. Red.) einen weiblichen Charakter spielen. Wie werden sie dann von Männern angesprochen? Das ist ja das Spannende: In VR übernehmen wir die Grundprinzipien der Realität. Wenn ich einen weiblichen Avatar verkörpere, kann ich auch nachempfinden, wie die Umwelt auf mich reagiert und sich Frauen dabei fühlen. 

Eine andere Identität anzunehmen, ist das ein typisches Motiv für die Wahl des Avatars?

Es hängt davon ab, was man und wie man es erleben will. Möchte man aus der Realität flüchten, weil man Stress auf der Arbeit hat, sich selbst nicht mehr sehen kann oder einfach mal jemand anders sein möchte? Oder geht es darum, weitergehende Erfahrungen zu machen und sich mit sich selbst auseinandersetzen? Ich glaube, das ist sehr divers und hängt auch von der einzelnen Situation ab. Wenn es um eine Fitnessanwendung geht, dann will ich mich vielleicht selbst darstellen – aber ich würde mir mehr Muskeln geben.

Was passiert denn, wenn man seinem Avatar mehr Muskeln gibt?

Meine erste Studie dazu hat gezeigt, dass das Anstrengungsempfinden bei Sportübungen tatsächlich geringer ist, wenn man dabei in der virtuellen Realität von einem muskulösen Avatar verkörpert wird, im Vergleich zu einem unmuskulösen Avatar. Männer zum Beispiel hatten dabei auch eine höhere Griffstärke. Es war sehr spannend zu sehen, wie stark sich das visuelle Erscheinungsbild des eigenen Körpers auswirkt. Daraus ist dann meine Doktorarbeit entstanden. Das Ziel ist es, bessere Systeme zu bauen und Guidelines für Designer zu entwickeln. Wie müssen Avatare designt sein, damit Nutzer:innen in VR besser performen können? Diese Idee baut letztlich auf dem Proteus-Effekt auf.


Je muskulöser die Avatare, desto leistungsfähiger sind die Menschen, die sie verkörpern. (Foto: Martin Kocur)

Was ist das?

Der Proteus-Effekt besagt, dass das visuelle Erscheinungsbild meines Avatars mein Verhalten, meine Einstellungen und meine Wahrnehmung der virtuellen Umgebung beeinflusst. Verwende ich beispielsweise einen größeren Avatar, nehme ich die Welt anders wahr, als in einem kleineren. Der Kern des Ganzen sind Stereotypen. Wenn ich eine körperlich anspruchsvolle Übung ausführen und die Nutzer:innen besser machen möchte, dann würde ich wahrscheinlich keine ältere Person mit Krückstock nehmen. Wir verwenden Stereotypen, um Assoziationen hervorzurufen, die uns wiederum primen, also prägen. Nutzer:innen versuchen sich dabei in Einklang mit dem visuellen Erscheinungsbild zu verhalten.

In welchen Bereichen wirkt sich dieser Proteus-Effekt noch positiv aus?

Da gibt es wirklich viele Bereiche. Bei einer der ersten Studien, die ich gelesen habe, ging es um rassistische Voreingenommenheit. Natürlich geht es da um implizite Vorurteile und teilweise marginale Effekte – das ist aus psychologischer Sicht äußerst spannend. Ich persönlich beschäftige mich aber hauptsächlich mit physischer Performanz, Muskeln und Ausdauer – wie bei unserer Studie zum Fahrradfahren.

Wie sah diese Studie aus?

Da sind die Probanden mit jedem Avatar 20 Minuten Fahrrad gefahren. Grundsätzlich arbeiten wir mit einem Within-Subject-Design. Das heißt, jeder Proband verkörpert jeden dieser Avatare einmal. Als erstes verkörpert man beispielsweise den unsportlichen, dann den sportlichen und schließlich den mäßig sportlichen Avatar. Alle diese Bedingungen werden 20 Minuten durchgeführt. Spannend war hier: Wir haben ja zunächst in einer Muskelstudie festgestellt, dass man mit dem richtigen Avatar mehr Kraft anwenden kann und zugleich das Anstrengungsempfinden sinkt. Bei der Studie zum 20-minütigen Fahrradfahren haben wir gezeigt, dass die Herzrate während der Übung im sportlichen Avatar signifikant geringer war, als die Herzrate beim nicht sportlichen und beim durchschnittlichen Avatar. Das heißt, dieser Effekt wirkt sich auch tatsächlich auf die physiologische Leistungsfähigkeit aus. Und jetzt muss man schauen, wie man das anwenden kann. Heißt das, dass ich wirklich sportlicher werde, wenn ich das öfter mache? Aber hier könnte man natürlich fragen: Will man das überhaupt?


Der Studienaufbau: Die Probanden sitzen auf einem Fitness-Fahrrad. Dabei werden sie von unterschiedlich sportlichen Avataren verkörpert. Bild: Martin Kocur

Wieso sollte man nicht sportlicher werden wollen?

Weil Amateursportler vielleicht Kalorien verbrennen wollen. Sie wollen, dass sich der Körper mehr anstrengt. Wir wissen, dass es Effekte gibt, aber wie wir diese anwenden können, müssen wir erst noch herausfinden.

Für unsere Abbilder in einem künftigen Metaversum könnte man also vereinfacht sagen: Denkt groß, wenn ihr euch einen Avatar kreiert, dann werdet ihr bessere, leistungsfähigere Menschen.

Es wäre schön, wenn es so einfach wäre. Aber bisher wissen wir nichts über Langzeiteffekte. Wie wäre es, wenn die Probanden eine Woche später nochmal wiederkommen würden? Wäre der Effekt derselbe? Es hat die Probanden einmal motiviert, aber vielleicht gewöhnen sie sich daran. Menschen sind sehr adaptiv. Das erste Mal einen Motion-Capture-Anzug (ein mit Sensoren augestatteter Anzug, mit dem sich Bewegunen aufzeichnen lassen, Anm. d. Red.) zu tragen erzeugt noch einen Wow-Effekt, aber nach einer halben Stunde fühlt sich der Avatar normal an – er wird zur Identität in der virtuellen Umgebung. Wenn wir uns also wirklich daran gewöhnen, werden wir so nicht zu besseren Menschen.

Titelbild: Getty Images

Martin Kocur

Martin Kocur ist Medieninformatiker und forscht zu Virtual Reality, Avataren und Mensch-Computer-Interaktion. Derzeit promoviert er am Lehrstuhl für Medieninformatik der Uni Regensburg unter Prof. Dr. Christian Wolff zum Thema Avatar-Design.

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