Populär wird nur, was auch Selfie-tauglich ist: wie das Social-Media-Phänomen „Wanghong“ die urbane Ästhetik Chinas verändert.
„Heute haben die Leute uns die Bude eingerannt. Wir kamen gar nicht hinterher mit unseren Schweinshaxen, noch vorm Abend war alles ausverkauft!“, erzählte mir erst kürzlich ein Bekannter, der im Pekinger Botschaftsviertel ein deutsches Wirtshaus führt. Während wir unser Feierabendbier tranken, wirkte er sichtlich außer Atem, doch gleichzeitig voller Euphorie und vor allem verblüfft.
Was war passiert? Als Marketing-Idee hatte der Restaurant-Manager einen Influencer angeheuert, um seinen Millionen Followern in einem Kurzvideo die deutsche Küche näherzubringen. Bereits am nächsten Tag, nachdem der Clip auf den sozialen Medien hochgeladen war, standen Pekings Millennials bis zum nächsten Häuserblock Schlange, um es dem Influencer gleichzutun: Auch sie wollten einmal echte deutsche Schweinshaxe probieren. Ein kurzer Clip hat vollbracht, was wohl dutzende Gastrokritiken in Tageszeitungen nicht geschafft hätten: ein gutbürgerliches, leicht miefiges Lokal in einen Hipster-Hotspot zu verwandeln.
„Wanghong“ nennt man dieses Phänomen in China. Und auch wenn der Begriff den aktuellen Zeitgeist wohl so gut einfängt wie kaum ein zweiter, ist eine Übersetzung ins Deutsche gar nicht so einfach. „Wang“ ist das Netz, und „hong“ bedeutet berühmt. „Wanghong“ sind also demnach Internetberühmtheiten.
Im März 2016 berichtete die staatliche „China Daily“ erstmals über das Schlagwort, welches zunächst ausschließlich für die neu aufkommenden Influencer angewandt wurde. „Cyber-Persönlichkeiten werden zu eigenen Marken, machen Millionen, gründen Unternehmen und kurbeln den Online-Modekauf in ganz China an“, schrieb der Autor. Und tatsächlich erwirtschafteten die populärsten „Wanghong“ schon damals Jahresgewinne im zweistelligen Millionenbereich. Solche Dimensionen dürfen nicht überraschen, denn in der Volksrepublik leben gut 400 Millionen, meist kaufkräftige, vor allem aber technikbegeisterte Millennials.
Internethype um angesagte Orte
Doch seither hat sich das „Wanghong“-Phänomen ausgeweitet. Es bezieht sich längst nicht mehr nur auf Influencer-Personen, sondern immer öfter auf bestimmte Orte: Gebäude etwa, Feriendörfer oder Restaurants. Cafés können „Wanghong“ sein, angesagte Kunstausstellungen oder auch eine bestimmte Hausfassade. Das Adjektiv bezieht sich stets auf eine bestimmte Ästhetik: „Wanghong“-Orte müssen als Hintergrundkulissen für Selfies dienen können.
Ein paar Beispiele haben die Macher:innen des Newsletters Chaoyang Trap kürzlich zusammengetragen. Mit dem Siegeszug der mobilen Apps ging die Liziba Metro-Station in der südwestchinesischen Metropole Chongqing viral. Die Zugplattform ist mitten in ein 19-stöckiges Wohnhaus integriert, sodass es durch die filmende Smartphone-Kamera so ausschaut, als würde die U-Bahn direkt durch die Apartments düsen. Der spektakuläre Selfie-Spot zieht mittlerweile so viele Tourist:innen an, dass die Stadtregierung eine eigene „Aussichtsplattform“ gegenüber der Metro-Station eingerichtet hat, um mit den Menschenmassen fertig zu werden. Gleichzeitig überlegen die Behörden bereits, ob sie das Viertel rundum erneuern, um von dem Internet-Hype noch weiter zu profitieren.
Eine Bahn fährt ein in die Liziba Metro-Station in Chongqing. Bild: Wikimedia/David290
Der vielleicht archetypische „Wanghong“-Ort ist die Binhai-Bibliothek in der Küstenstadt Tianjin: Futuristisch geschwungene Bücherregale, die wie aus der Feder von Star-Architektin Zaha Hadid zu stammen scheinen, schmiegen sich bis zu der gläsernen Kuppeldecke empor. Ein überdimensionaler Leuchtkörper steht im Zentrum der weiß ausgeleuchteten Halle. Unzählige Blog-Einträge fragen in ihren Überschriften, ob es sich hier gar um die „atemberaubendste Bücherei der Welt“ handelt. Jeden Monat zieht es zudem tausende junge Chines:innen in das spektakuläre Ambiente – nicht jedoch um Bücher zu leihen, sondern um Fotos zu posten.
Denn die Binhai-Bibliothek ist, wie fast alle „Wanghong“-Orte, zweckentfremdet: Sie dient als Kulisse für Selfies und Tiktok-Videos, doch ist vollkommen unpraktisch für das Ausleihen von Büchern. Viele der Regale sind für den menschlichen Arm gar nicht zu erreichen, da sie in schwindelerregenden Höhen im Raum schweben. Tatsächlich musste der Bibliotheksleiter nur kurz nach der Eröffnung der Bibliothek 2017 einräumen, dass viele Bücher lediglich aufgeklebte Imitate sind.
Die Binhai-Bibliothek in Tianjin bietet eine atemberaubende Fotokulisse – die Bücher selbst werden zur Nebensache. Bild: Getty Images
Auch die Cafés, die in Shanghai praktisch täglich aus dem Boden sprießen, sind alle „instagrammable“; ob der Kaffee auch schmeckt, ist zweitrangig. Erfolgreich wird nur, was auf sozialen Medien viral gehen kann.
Wie etwa der Sitzplatz auf der Terrasse einer Pekinger Craft Beer Kneipe: Seit im letzten Oktober dort ein Influencer ein Selfie schoss, stehen die Kund:innen täglich Schlange, um genau denselben Fotohintergrund zu ergattern. Im letzten Jahr wurden auf dem „Wanghong“-Platz abertausende Social-Media-Beiträge gepostet, dutzende Shootings von Modemagazinen veranstaltet und mindestens ein Pärchen soll sich hier das Ja-Wort gegeben haben.
Choreografiert bis ins letzte Detail
Ebenfalls entstehen in vielen chinesischen Städten Replikate alter Nachtmärkte voller Garküchen. Die „Wenheyou“ genannten Komplexe sollen nostalgisch an die Achtzigerjahre erinnern – inklusive unverputzter Ziegelsteine, offener Kabelleitungen und verrosteter Klimaanlagen. Man wähnt sich in der Vergangenheit, als Chinas Städte noch nicht eine gesichtslose Aneinanderreihung gleichförmiger Hochhäuser waren. Doch tatsächlich befinden sich die Kund:innen in bis ins letzte Detail choreografierten Einkaufszentren, die alles andere als „authentisch“ sind. Die scheinbar heruntergekommenen Häuserwände sind allerdings nur aufgeklebte Kulissen, doch das macht nichts, denn auf dem Smartphone-Selfie wirken sie echt. Und genau deswegen ziehen sie so viele Besucher:innen an.
Die künstliche Nachbildung eines alten chinesischen Nachtmarktes: Das Wenheyou Laochangsha Lobster Restaurant in Changsha. Bild: Reddot
Denn bei „Wanghong“-Orten geht es ausschließlich um den Fotobeweis, hochgeladen auf sozialen Medien, um möglichst viele Likes zu generieren. Letztendlich jedoch ist dies eine vollkommen selbstbezogene Tätigkeit. Der urbane Raum, als Medium für soziale Interaktionen gestaltet, verkümmert bisweilen zur Schaubühne von Online-Performern.
Und die „Wanghong“-Schweinshaxe von meinem Bekannten? Nach wenigen Wochen sind die Menschenmassen so schnell wieder verschwunden, wie sie einst aufgetaucht sind. Pekings Millennials sind schließlich stets auf der Suche. Längst haben sie ein neues „Wanghong“- Phänomen gefunden.
Titelbild: Getty Images