Otto Lilienthal war fasziniert von Störchen. Ihretwegen ist er abgehoben – und abgestürzt. Trotzdem gilt der große Träumer als Pionier der Lüfte und Wegbereiter des modernen Flugverkehrs.
Immer im Frühling, wenn die Störche klappernd ihre Ankunft anzeigten, hockten die Brüder Lilienthal am Fenster ihres Anklamer Elternhauses und beobachteten fasziniert den Einzug der Himmelsstürmer. Die beiden Gymnasiasten Otto und Gustav skizzierten und maßen dann, was das Leben ihnen auf der Outdoor-Bühne präsentierte.
Sie zogen selber Jungvögel auf, um ihren Schwingenschlag besser untersuchen zu können. Sie bauten Instrumente und Flügel aus Holz, mit denen sie den Auftrieb der Vögel nachstellten. Ihre Beobachtungen goss Schwester Agnes in Tabellen. Und die Unterlagen der Geschwister dienten schließlich als Basis für ein Buch, das wegweisend dabei geholfen hat, der Welt ihren ältesten Traum zu erfüllen.
„Sich hinaufzuschwingen und frei wie der Vogel über lachende Gefilde, schattige Wälder und spiegelnde Seen dahinzugleiten“, sei Grund für die menschliche Sehnsucht, fliegen zu können, schreibt Otto Lilienthal in seinem Werk „Der Vogelflug als Grundlage der Fliegekunst.“ Sein Print-Erstling aus dem Jahr 1889 gilt heute zu Recht als bedeutendste Grundlage für die Entwicklung des modernen Luftverkehrs.
Lilienthal und seine Geschwister zählen damit zu den berühmtesten Vertreter:innen der Bionik – jener Forschungsgemeinde, die sich von der Natur inspirieren lässt, um bahnbrechende technologische Innovationen voranzutreiben.
Universaltalent und Spätzünder
Doch bis zum ersten Abflug war es für Otto Lilienthal ein weiter und bisweilen mühevoller Weg. Zwar hatte das Schicksal ihn mit geradezu universalen Fähigkeiten ausgestattet. Er war nicht nur mathematisch, physikalisch und handwerklich begabt. Er turnte und dichtete außerdem, schrieb ein Theaterstück und erfand zusammen mit Gustav die berühmten Ankerbausteine, ein Kinderspielzeug, um das die Brüder einen erbitterten Patentstreit führten und verloren. Auch die Patentanmeldung für einen Stirlingmotor schlug fehl.
Erst die Erfindung einer Dampfmaschine, die nicht explodieren konnte, brachte den erhofften, unternehmerischen Durchbruch. Otto Lilienthal gründete in Berlin eine eigene Maschinenfabrik – und eine große Familie mit seiner Frau Agnes. Er sei Vater von vier Kindern, er könne sich nicht ständig darum kümmern, für die Menschheit die Fliegerei zu erfinden, soll er einmal genervt gestöhnt haben.
Doch der Traum vom Aufstieg war und blieb sein Lebensmotor. Aus Baumwolltuch und Weidenholz bastelte Lilienthal rund zwanzig verschiedene Modelle, um in die Lüfte zu flattern. Die meisten dieser Flügelschlagapparate und Doppeldecker sahen aus wie überdimensionierte Fledermäuse. 1894 ging Otto Lilienthals „Normalsegelapparat“ als erstes Flugzeug aller Zeiten in Serie. Sein Motto lautete dabei stets: Vom Schritt zum Sprung, vom Sprung zum Flug.
Umso tragischer, dass ihn trotz seiner Vorsicht, Geduld und Systematik am Ende doch die Schwerkraft besiegte. Tausende von Gleitflügen unternahm Lilienthal von den Erhebungen und Hügeln in und rund um Berlin. Manchmal waren es 80 Starts und Landungen an einem Tag. Bis zu 250 Meter flog er dann unter dem Gejubel seiner Zuschauer:innen durch die Luft.
Otto Lilienthal mit einer seiner kühnen Konstruktionen. Quelle: Getty Images
Der Influencer der Lüfte
Otto Lilienthal wurde zum Medienstar. Die noch junge Fotografie brachte ihm auch international bebilderte Beifallsstürme ein. Und der Innovator spielte auf der für die damalige Zeit nigelnagelneuen PR-Klaviatur bravourös. Seine „Segelapparate zur Übung des Kunstfluges“ offerierte er für 500 Mark, warb geschickt für sich und seinen Sport und packte zu jedem seiner verkauften Gleiter eine augenzwinkernde Obacht-Anleitung: „Also bedenken Sie, dass Sie nur ein Genick zum Zerbrechen haben.“
Als Otto Lilienthal am 9. August 1896 in Baumwollhemd und Kniebundhose ins Fluggeschirr und an den Rand des brandenburgischen Gollenberggipfels stieg, waren die Bedingungen akzeptabel. Er selbst war gut in Form, fröhlich.
Der Wetterdienst in Potsdam meldete ein stabiles Sommerhoch bei 20 Grad. Etwas Wind, der Lilienthals Assistenten und Mechaniker Paul Beylich zwar beunruhigte: „Ich weiß nicht Otto, das Wetter ist zwar schön, aber der Wind macht mir Sorgen, lass uns morgen weitermachen.“ Doch der Chef winkte ab: „Oh nein, noch einen letzten Flug, dann machen wir Feierabend.“
Otto Lilienthal ging ein paar Schritte abwärts, um wie stets mit Schwung in die Luft zu steigen. Ihn trugen die von ihm revolutionär untersuchten Auftriebsparameter der Aerodynamik, sein Apparat, den er konstruiert hatte, um den ältesten Menschhheitstraum zu realisieren, sein Wissen um das Flugprinzip „schwerer als Luft“, sein Glaube an den Fortschritt und sein Wagemut.
Eine Bö erfasste ihn. Er begann, mit den Beinen zu schlenkern, um den Apparat wieder auf Kurs zu bringen. Doch das Fluggerät widersetzte sich seinen Berechnungen, kippte nach vorne und stürzte mit seiner Ein-Mann-Besatzung über 15 Meter in die Tiefe.
„Jeder muss Opfer bringen“
Forscher:innen sind sich heute einig, dass Otto Lilienthals Fluggerät absolut tauglich war. Doch er hätte an diesem Tag nicht abheben dürfen. „Jeder muss Opfer bringen“ soll Otto Lilienthal einmal gesagt haben – wohl um sich seiner Frau zu erklären, die er aufgrund seiner luftigen Leidenschaft viel zu selten sah. Er starb einen Tag nach seinem Absturz an einer Hirnblutung.
Mit seiner Fliegerei hoffte Otto Lilienthal, der Welt zwei Dinge zu bringen. Den weltumspannenden Luftverkehr. Und ewigen Frieden. „Wenn man frei wie der Vogel über jede Grenze hinweg fliegen kann, dann machen sich Armeen am Boden einfach lächerlich“, schrieb er.
Der Flugverkehr vernetzte die Welt schneller, als es sich ihr Wegbereiter vermutlich je hätte vorstellen können. Auf den Frieden wartet der Planet noch. Aber wer weiß, vielleicht wird der Visionär der Lüfte ja eines Tages auch mit dieser bahnbrechenden Idee recht behalten.
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