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  • 10.05.2021
  • Miriam Binner

Und plötzlich geht's doch

Nicht jede bahnbrechende Neuerung setzt sich gleich durch. Der Erfolg von Innovationen hängt von vielen Faktoren ab - nicht zuletzt vom Timing.

Autofabriken und Restaurants haben wenig gemeinsam, sind aber gleichermaßen Schauplatz einer Innovationsgeschichte von globalem Ausmaß. Und ihren Anfang nimmt diese Geschichte vor mehr als 25 Jahren in Japan. Die dortige Autoindustrie suchte damals nach einer besseren Alternative zum Barcode, der bereits seit den Sechzigerjahren im Einsatz war. Zwar funktionierte der zuverlässig, war aber in gewisser Weise technisch limitiert: Er konnte maximal 20 Ziffern und Buchstaben von links nach rechts auslesen.

Das Unternehmen Denso Wave, Hersteller von Barcode-Scannern, erhielt den Auftrag, eine bessere Lösung zu finden – und der zuständige Ingenieur Masahiro Hara entwickelte eine Innovation, die sich sowohl von links nach rechts wie von oben nach unten auslesen ließ und bis zu 7000 Ziffern und Buchstaben darstellen konnte – die quadratischen Quick-Response-Codes, heute besser bekannt als QR-Codes.

Und die erleben aktuell ein unfreiwilliges Comeback – allerdings in einem anderen Einsatzfeld als ursprünglich geplant. Restaurants, Cafés und Hotels setzen die Quadrate ein, um die Ausbreitung des Coronavirus zu bremsen: Speisekarten, Kontaktformulare und Stifte müssen dank Haras Erfindung nicht mehr durch Hunderte Hände, berührt wird nur noch das eigene Gerät.

Kein Zufall


Von der Informationsverarbeitung in der Industrie zur Kontaktvermeidung in der Gastronomie: Solche Wendungen lassen sich bei vielen Innovationen beobachten. Sie wechseln ihre Funktion und damit das Einsatzfeld, werden überarbeitet und erreichen neue Kund:innen. Dann erst setzen sie sich durch. Manchmal dauert das mehrere Generationen, manchmal überleben nur gewisse Elemente. Alles unvorhersehbare, zufällige Entwicklungen? Mitnichten.

Tatsächlich verraten die Beispiele einiges darüber, wie sich Innovationen verbreiten. So sehr etwa der späte Erfolg des QR-Codes nach Zufall aussehen mag, so eindeutig folgt er den Erkenntnissen der Akzeptanzforschung. Sie beschreibt die Durchsetzung von Innovationen als Prozess über mehrere Stufen. Und am Anfang steht praktisch immer die Ablehnung.

Der Grund: Neue Technologien zwingen ihre Nutzer:innen zur Umstellung – ihrer Routinen und Kommunikationswege, ihrer Interaktion mit anderen Menschen. Und dieser innere Widerstand gegen Veränderung schwindet erst, wenn die Vorteile selbst die hartnäckigsten Fortschrittsverweiger:innen überzeugen. Im Idealfall entscheiden sich gemäß der Diffusionstheorie mehr und mehr Menschen für die neue Lösung, sprechen darüber und tragen sie so in die Breite, bis sie sich als neuer Standard etabliert – doch das klappt selten im ersten Anlauf.


Im ada-Podcast sprechen Miriam Meckel und Léa Steinacker über die Wiedergeburt einer lange unterschätzten Technologie.

Der Zeit voraus?


Google hat das vor sechs Jahren mit seiner Datenbrille Glass erlebt. Die Neuheit sollte, so zumindest der Plan des Techkonzerns, den Bürger:innen im Alltag helfen – etwa mit Wegbeschreibungen direkt im Sichtfeld oder Kameraaufnahmen per Sprachbefehl. Doch statt der sogenannten erweiterten Realität den Durchbruch im Konsument:innenbereich zu bescheren, führte die Aktion zum Boykott.

Den Anstoß gab vor allem die umstrittene Videofunktion: Datenschützer:innen interpretierten sie als Angriff auf die Privatsphäre, „Glasshole“ etablierte sich als neues Schimpfwort, Nutzer:innen mussten in der Öffentlichkeit Prügel befürchten. Kein Wunder, dass die Brillen in den USA erst mal nicht über eine Testphase hinauskamen und Google im Jahr 2015 vorerst einen Schlussstrich zog.

Hier könnte die Geschichte von Glass nun enden und sich einreihen in die Liste all jener Innovationen, die sich trotz hohen Entwicklungs- und Marketingaufwands als Flop entpuppten. Bloß: Die Geschichte ist nicht nur weitergegangen, sondern hat sich inzwischen als Erfolg entpuppt.

Bereits zwei Jahre nach dem vorübergehenden Ende der Testphase verkündete Google mehrere Pilotprojekte mit Großunternehmen wie General Electric, Volkswagen oder DHL. Heute unterstützen Google Glass und andere Datenbrillen wie die HoloLens von Microsoft beim Kommissionieren von Waren und Ersatzteilen.

Bei Logistikdienstleistern leiten sie Mitarbeiter:innen durchs Lager – und ersetzen damit Ansagen per Kopfhörer. Knapp 70 Millionen solcher Headsets könnten laut Prognosen des Marktforschungsunternehmens IDC im Jahr 2023 weltweit verkauft werden, im Vergleich zu fast neun Millionen im Jahr 2019. Da stellt sich die Frage: Was ist passiert?

„Vor allem Unternehmen aus der Techbranche überschätzen die Vorteile ihrer Produkte oft massiv“, sagt Marketingprofessor Daniel Wentzel, der sich an der RWTH Aachen auf Konsumentenverhalten und die Adoption von Innovationen spezialisiert hat. Was Entwickler:innenteams häufig vergessen: „Erst wenn eine neue Technologie ein Problem sinnvoll löst, gibt es einen Anreiz, sich darauf einzulassen.“

Schnelles Feedback


Fünf Jahre später ist Googles Fehler klar: Der Suchmaschinenkonzern hatte zunächst den falschen Einsatzbereich gewählt – und nicht richtig eingeschätzt, dass zwar privat niemand auf der Straße mit Datenbrillen gesehen werden will, im Lager oder in der Werkshalle aber sehr wohl. Umso wichtiger ist es, dieses schonungslose Urteil so früh wie möglich einzuholen. Welche Elemente bringen wahre Vorteile? Und welche sind nur technische Spielerei?

Damit beweist die „Glassholes“-Affäre zugleich: Eine Idee ist erst ruiniert, wenn auch die letzten möglichen Interessent:innen ihre Absage erteilen. Davor heißt es, immer wieder neue Zielgruppen anzusprechen, sagt Tanja Golly, die an der Uni Würzburg junge Gründer:innen berät: „Early Adopter sind besonders geeignet, eine Idee im frühen Stadium zu validieren, da sie mit ihrer Vorstellungskraft viele Lücken schließen.“

Sehr schön beobachten lässt sich das derzeit auch bei Virtual-Reality-Headsets. Die Gaming-Szene musste sich jahrelang mit teuren Geräten und schlechter Grafik herumschlagen, heute ist die Technik reif für den Masseneinsatz. Und zwar in Unternehmen – nicht bei Privatpersonen, wie ursprünglich auch bei Googles Datenbrille gedacht.

Noch im Jahr 2017 war VR-Headsets der Durchbruch bei den Verbraucher:innen prophezeit worden. Gerade das Modell Oculus galt als Hoffnung für ein neues Onlineshopping-Erlebnis vom heimischen Sofa aus. „Dabei ist VR eher ein ernst zu nehmendes Werkzeug als ein grafisch beeindruckendes Spielzeug“, sagt Marvin Tekautschitz, Gründer und COO des Start-ups WeAre, das Software auf Headsets von HTC optimiert.

Die Berliner Firma schickt nun Mitarbeiter:innen von Geschäftskunden mit Brille und Controller in einen virtuellen Raum. Dort bekommen sie beispielsweise Prototypen, Bauteile oder ganze Industrieanlagen dargestellt. Konkret richtet sich das Start-up damit an Maschinenbauer, die ihren Teams die Zusammenarbeit auf Distanz erleichtern wollen. „Unsere Software hilft dabei, Planungsfehler rechtzeitig zu erkennen, weil komplexe Projekte anschaulich visualisiert werden“, sagt Tekautschitz. In einem Fall sei zum Beispiel ein Stahlseil entdeckt worden, das versehentlich mitten durch eine Produktionsanlage geplant war.

Langer Atem


Vom Onlinehandel in den Maschinenbau, von der Industrie in die Gastronomie, von Privatkund:innen zu Mitarbeiter:innen in Unternehmen: In allen Fällen dauert die Reise. VR-Headsets etwa mussten erst in größeren Stückzahlen verfügbar werden, um bei Geschäftskund:innen anzukommen. Innovationen setzen sich oft nur dank hartnäckiger Vorarbeit durch. Und diesen sprichwörtlich langen Atem haben nicht alle. 

Das bekamen auch Tablet-Pioniere wie Grid Systems oder Palm zu spüren. Seit den Achtzigerjahren waren sämtliche Versuche gescheitert, die tragbaren Computer zu etablieren. Die Produktkategorie schien chancenlos – bis Apple im Jahr 2010 mit der ersten iPad-Generation einen neuen Versuch startete.

Der Unterschied: Vermarktet als überdimensionierte iPhones, fanden die Tablets plötzlich Kund:innen. Inzwischen ist das iPad in der achten Generation angelangt – und wird als Marktführer jährlich rund 50 Millionen Mal verkauft. Mit deutlichem Abstand zu Konkurrenzprodukten von Samsung, Lenovo oder Microsoft.

Vor allem die Erfolgsgeschichte des tastenlosen Smartphones dürfte dem iPad den Weg bereitet haben. „Gerade das iPhone-ähnliche Design kam gut an“, sagt Wirtschaftsinformatikerin Anika Nissen, die sich an der Uni Duisburg-Essen auf neurowissenschaftliche Methoden zur Kaufforschung spezialisiert hat: „Neue Technologien haben es leichter, wenn sie Analogien herstellen zu Produkten, die die Anwender:innen schon kennen.“

Ihr Forschungszweig versucht, einen großen Traum aller Hersteller wahr werden zu lassen: In Zukunft soll sich prognostizieren lassen, wie neue Produkte ankommen. Werden erste Nutzer:innen mit Neugier und Freude reagieren oder mit Unsicherheit und Ablehnung? Verraten Aktivitäten im Gehirn oder körperliche Indikatoren wie Atmung oder Herzfrequenz etwas darüber, welches Produkt sich zum Top oder Flop entwickelt? „Noch können wir die Signale im Gehirn und die zugehörigen Emotionen nicht immer eindeutig interpretieren, ohne die Probanden zu fragen“, sagt Nissen.

Was wir daraus lernen? Eines wird sich bei aller Planung, Forschung und Analyse auch künftig nicht verändern: Der Erfolg einer Innovation wird zumindest ein Stück weit immer unberechenbar bleiben.

Titelbild: Toa Heftiba on Unsplash

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