Die Quoten bei den großen Streamingdiensten galten lange als Black Box. Nun führt Netflix wöchentliche Top10-Listen ein – sie könnten zum neuen Standard werden. Doch wirklich transparent sind sie nicht.
Als „Wetten, dass..?“ und „TV total“ vor zwei Wochen ihre Aufsehen erregenden Comebacks feierten, fühlte sich das an wie eine Zeitreise in die glamouröse Ära des linearen Fernsehens. Doch nicht nur die Zuschauenden verfielen angesichts der Rückkehr in Nostalgie, die traumhaften Einschaltquoten dürften auch in den Führungsetagen der deutschen TV-Sender für eine gewisse Sehnsucht nach einer längst vergangenen Zeit gesorgt haben. Schließlich sind solche kollektiv-dynamischen Live-TV-Ereignisse, in Zeiten von Video- und Streamingplattformen mit einem mannigfaltigen Angebot an jederzeit abrufbaren Inhalten, kaum noch möglich.
Und selbst wenn man die alten Quotenmaßstäbe anlegen würden, eine einheitliche Messung gibt es im abobasierten Streaming ohnehin nicht: Die Branche tut sich traditionell schwer damit, den Erfolg der eigenen Angebote in Zahlen zu bemessen. Zwar können Netflix und andere Streaming-Plattformen auf schier unendliche Datenmengen zurückgreifen – doch Einblick in diese Daten gewährten die Anbieter bisher kaum. Das war auch nie nötig, schließlich finanzieren sich die kostenpflichtigen Dienste selbst und müssen keine Werbung vermarkten. Darüber hinaus fehlte lange eine zeitgemäße Zählweise, die über schnöde Abrufzahlen hinausgeht.
Doch das könnte sich nun ändern: In dieser Woche gab Branchenprimus Netflix bekannt, dass man von nun an wöchentlich vier verschiedene Top 10-Listen der erfolgreichsten Inhalte veröffentlichen wolle. Die Rankings unterscheiden zwischen Filmen und TV, jeweils für originär englischsprachige und nicht-englischsprachige Inhalte, wie Netflix-Vize Pablo Perez De Rosso in einem Blogeintrag erklärte. Auf einer neuen Website lassen sich die Listen bereits abrufen – und das sogar rückwirkend bis Ende Juni 2021.
Die Einheit, mit der das Unternehmen den Erfolg der eigenen Inhalte bemisst, ist die Gesamtzahl der Stunden, die Zuschauende mit dem Ansehen einer Serie, eines Films oder anderen Formaten verbringen. Auf Platz eins der englischsprachigen Filme steht für die vergangene Woche der kürzlich erschienene und starbespickte Actionfilm Red Notice – mit atemberaubenden 148 Millionen Stunden. Gewählt habe man diese Messmethode, weil sich daran die allgemeine Beliebtheit ablesen lasse, ein mehrmaliges Anschauen von Titeln inbegriffen sei und so letztlich auch im Vergleich zu anderen Unternehmen eine einheitliche Grundlage geschaffen würde.
Sollten sich andere Plattformen trauen, tatsächlich in den direkten Zahlenvergleich zu gehen, könnte Netflix einen neuen Industriestandard ins Leben gerufen haben. Einen sehr affirmativen Standard allerdings – schließlich klammern die Top 10-Listen weniger erfolgreiche Formate völlig aus und potenzieren den Erfolg bereits beliebter Formate im Stile einer selbsterfüllenden Prophezeiung. Echte Transparenz, wie Netflix es gerade gerne darstellt, sieht anders aus. Da hilft auch kein selbstironisches Video, in dem Mitarbeiter:innen kritische Postings aus den sozialen Medien über den bisherigen Zahlenmangel sarkastisch vorlesen: ein Format, bekannt aus der US-amerikanischen Late-Night-Show von Jimmy Kimmel. Richtig – aus der glamourösen Ära des linearen Fernsehens.
Titelbild: Oscar Vargas/Unsplash