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  • 18.08.2022
  • Miriam Meckel

Sein oder Nichtsein: Die Virtualisierung der Unterhaltungsbranche

Die virtuelle Show der legendären Popband Abba ist eine Disruption der Konzerterfahrung. Technologie wird zum neuen Fundament künftiger Entertainmenterfahrung.

Es gibt einen Moment, in dem plötzlich die Selbstreflexion einsetzt. Ein Moment, in dem ich mich frage: Was mache ich hier eigentlich? Die Antwort lautet: Ich jubele mit etwa 3000 anderen Menschen einer Projektion zu. Kreischende Begeisterung über 90 Minuten für die Lichtreflexion von vier Menschen auf einer Bühne. Ich habe sogar ein Poster gekauft – ein Poster, auf dem eine Projektion abgebildet ist, die Menschen zeigt, wie sie vor 35 Jahren einmal ausgesehen haben.

Das alles ist „Abba Voyage“, die virtuelle Show der legendären schwedischen Popband, die seit Mai jeden Abend in der eigens errichteten Abba-Arena in London läuft. Wie kann das funktionieren? Theoretisch betrachtet kaum, denn der wahre Fan will doch die echten Stars sehen. Praktisch betrachtet funktioniert es bombig. Abba Voyage ist der Beginn einer Reise in die Zukunft des Entertainments.

Das Projekt hat sechs Jahre Vorbereitungszeit gebraucht und rund 175 Millionen Dollar gekostet – viel Aufwand für eine Reinkarnation von Agnetha, Anni-Frid, Björn und Benny. Seit Beginn der Show ist die Arena nahezu jeden Abend ausverkauft. Bei einem Ticketpreis von durchschnittlich 80 Euro und sieben Shows pro Woche beläuft sich der Umsatz auf knapp zwei Millionen im Monat.

Schon jetzt steht fest, dass die Arena nur bis April 2023 bespielt werden darf. Der Break-even wird also mit der Londoner Show nicht gelingen. Aber die Arena ist so konstruiert, dass sie danach auf Reisen gehen kann. Und es geht ja auch nicht um ein Einzelprojekt. Hier haben die Schweden die Bühnenshow wahrlich neu erfunden. Innovation verlangt Investition.

„Sein oder Nichtsein, das ist nicht mehr die Frage“, sagt der virtuelle Benny in einer Zwischenansprache ans Publikum. Die Abwandlung des berühmten Zitats aus Shakespeares „Hamlet“ trifft genau den Punkt: Wo früher die physische Nähe und Berührbarkeit der Weltstars der größte Wunsch des Publikums waren, tritt nun die „Experience“, das einmalige Erlebnis, an ihre Stelle.

Was die Schweden in London auf die Bühne bringen, ist eine Disruption der Konzerterfahrung. In Hunderten von Stunden wurden die echten vier Bandmitglieder in Spezialanzügen und mit „Proxy-Charakteren“ für die Bewegungsabläufe aufgezeichnet, es wurden Körperanatomie-, Haut-, Augen- und Wimpernsimulationen produziert und dann per CGI-Technik (Computer Generated Imagery) zusammengeführt. Das Ergebnis ist bahnbrechend: Man glaubt, die vier Künstlerinnen und Künstler auf der Bühne live zu sehen, und nicht nur ihre „Abbatare“.

Abba: Vorreiter neuer Technologien


Die eigentliche Technik dahinter ist hochentwickelt, aber keine Zauberei: Die Musiker agieren vor einer riesigen LED-Wand, auf die der Hintergrund aufgespielt wird, beides zusammen wird mit modernster Filmtechnik aufgenommen und virtuell produziert. 160 3D-Motion-Capture-Kameras und eine Milliarde Computerstunden von „Industrial Light & Magic“ haben das möglich gemacht.


Die virtuellen Abbilder von ABBA während einer Show im Mai 2022. Foto: Flickr/Raph_PH

Abba war als Band übrigens schon damals Vorreiter in der Anwendung neuer Technologien. Musikalisch haben die vier einen besonderen Sound entwickelt, der durch die mehrfache Überlagerung der beiden Frauenstimmen und Harmonien entstand und den Popsongs einen orchestralen Klang verlieh. Sie waren 1975 eine der ersten Bands, die mit „Mamma Mia“ ein Musikvideo auf den Markt brachten und damit die Fans in aller Welt begeisterten.

Technologie wird zum neuen Fundament künftiger Entertainmenterfahrung. Inzwischen finden im Onlinespiel „Minecraft“ Musikfestivals statt und virtuelle Konzerte im Computerspiel „Fortnite“, bei denen Ariana Grande Flügel wachsen und ihre Fans auf fliegenden Einhörnern reiten. Die Spieleplattform Roblox ist nicht nur eine bevorzugte Markenwelt für Avatarkleidung von Luxusmodelabels, sondern auch Gastgeber von Konzerten mit Wildwest-Thematik des Rappers Lil Nas-X.

Im März vergangenen Jahres hat die legendäre koreanische Popband „BTS“ ein Konzert für 2,4 Millionen zahlende Gäste online und in Kinos veranstaltet. Virtuelle Unterhaltung entwickelt sich zum Riesengeschäft. Nach Einschätzung der Entertainment-Intelligence-Gruppe Midia werden solche Konzerte in wenigen Jahren vier bis fünf Milliarden Dollar Umsatz bringen.

Virtuelle Objekte, Charaktere und Shows werden immer selbstverständlicher


Aber die Unterhaltungsbranche wird nicht die einzige bleiben, die diesen Trend konsequent umsetzt. Welche Chance liegt darin für Werbeträger, im virtuellen Format nahezu überall gleichzeitig präsent zu sein? Wie ließen sich Roadshows gestalten, bei denen die CEOs nicht mehr live vor Ort sein müssen, sondern durch ihre perfekt produzierten Avatare repräsentiert werden? Und wie würde das in einem Wahlkampf aussehen, in dem die Politikerinnen und Politiker überall gleichzeitig zur Bevölkerung sprechen können?

Vom letzten Beispiel hat der indische Premierminister Narendra Modi schon im Wahlkampf 2014 eine beeindruckende Kostprobe gegeben. Um 800 Millionen Inderinnen und Inder in nur sechs Wochen persönlich zu mobilisieren, ließ Modi sich Tausende Male als Hologramm in die Hallen projizieren.

Sein oder Nichtsein, das ist nicht mehr die Frage? In jedem Fall haben sich die Erwartungen und Sehgewohnheiten der Menschen verändert. Virtuelle Objekte, Charaktere und Shows gehören in unserer Welt immer selbstverständlicher dazu. Vielleicht ist nicht Sein oder Nichtsein die Frage, sondern sie betrifft ein Anders-Sein, das die virtuelle Welt als Showcase, Existenzform und Interaktionsmöglichkeit mit wahren Gefühlen uns allen eröffnet.

Ludvig Andersson, Sohn von Benny und einer der Produzenten von Abba Voyage, sieht die Abbatare, die Reinkarnationen seines 33-jährigen Vaters Benny und der anderen Bandmitglieder, als genau solche Zwitterwesen des Andersseins, als „eine Kombination aus ihrer Existenz als Abba und ihrer Existenz als sie selbst [...], ein Geist in der Maschine.“

Der Geist in der Maschine trifft den Geist der Betrachterin – und daraus entsteht ein Musik- und Showerlebnis, das mich darüber nachdenken lässt, wie wirklich die Wirklichkeit ist: ein Fenster, durch das ich auf die Welt blicken kann, oder ein Fenster in meinem Geist, in das sich eine Welt projizieren lässt. Irgendwo dazwischen bewegen wir uns. Mamma Mia!

Titelbild: Flickr/Raph_PH

Miriam Meckel

Miriam Meckel ist Mitgründerin und Geschäftsführerin von ada und Professorin für Kommunikationsmanagement an der Universität St. Gallen, Schweiz. In dieser Kolumne schreibt sie alle zwei Wochen über Ideen, Innovationen und Interpretationen, die Fortschritt bringen und unser Leben verbessern. Denn was die Raupe das Ende der Welt nennt, nennt der Rest der Welt einen Schmetterling.

Diese Kolumne erscheint sowohl beim Handelsblatt als auch bei uns.

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