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  • 01.07.2022
  • Astrid Maier

Sechs-Punkte-Plan gegen den Fachkräftemangel

Länger arbeiten, um die Wirtschaft zu retten? Es gibt echte Lösungen, wie wir den Wohlstand retten können, statt ein kaputtes System auszupressen.

Ungewöhnliche Zeiten verlangen nach ungewöhnlichen Lösungen, und dass wir uns auf dem Arbeitsmarkt auf neuem Terrain bewegen, spürt fast jede:r von uns täglich: Der Flieger aus dem Urlaub wird storniert, die Lehrerin unserer Kinder, die in Rente geht, wird nicht ersetzt, der Sonnenschirm für den Balkon kommt nicht vor dem Herbst an und auf den Termin beim Hautarzt darf gerne mal ein halbes Jahr gewartet werden.

Was ist bloß los am deutschen Arbeitsmarkt? Unternehmen wollen einstellen, ob Köche, Friseurinnen, Lehrer, LKW-Fahrerinnen oder UX-Designer – aber sie werden nicht (mehr) fündig. Vom Wirtschaftsteil bis zum Feuilleton hat es das Thema nun unter dem Überbegriff „Big Quit” in die Zeitungen geschafft. Big Quit, frei übersetzt, bedeutet das Phänomen, dass Menschen in Massen ihre Jobs kündigen, weil sie anderswo bessere Arbeit finden.

Den letzten Saft aus der Zitrone pressen


Eine Lösung scheint schon gefunden: BDI-Chef Siegfried Russwurm und FDP-Chef Christian Lindner fordern, die Deutschen sollten wieder länger arbeiten, in Form von 42 Stunden die Woche (Russwurm) oder als Überstunden (Lindner). Das ist zynisch.

Krankenpfleger:innen machen schon Überstunden und verdienen doch nicht mehr, Lehrer:innen unterrichten längst Fächer zusätzlich, die sie nie studiert haben und Servicekräfte können sich immer noch nicht klonen. Die vermeintliche Lösung hilft nicht, den großen Fehler im System zu korrigieren, sondern nur, den letzten Saft aus einer längst ausgepressten Zitrone zu quetschen. Deutschland geht das Problem ein bisschen an, wie einst die Digitalisierung: Das Alte optimieren, statt Neues zu wagen. Um im Bild zu bleiben: Statt selbst fahrende Autos frühzeitig zu konzipieren, werkeln wir lieber möglichst lange daran, den Verbrennungsmotor zu optimieren.

Und das ist tragisch, denn die Not auf dem deutschen Arbeitsmarkt lässt sich nur zum Teil mit dem Big Quit erklären. Der andere, viel größere Teil der Wahrheit, ist: Nichts von dem, was gerade passiert, sollte jemanden wirklich überraschen. Seit langem schon verschwindet jedes Jahr wegen der alternden Bevölkerung in Deutschland eine Großstadt vom Arbeitsmarkt, hat Die ZEIT neulich resümiert. Corona hat jetzt nur vieles beschleunigt. In die Zukunft gedacht bedeutet dies, dass wenn uns bald eine große Wirtschaftskrise bevorsteht, wir den Aufschwung danach nicht mehr hinkriegen werden – aus Mangel an Personal.

Neue Lösungen braucht das Land


Deutschland braucht dringend einen Plan, einen Systemwechsel am Arbeitsmarkt, wie Wohlstand, Sicherheit und Unversehrtheit auch in die Zukunft aufrechterhalten werden können. Erfreulicherweise gibt es dazu Lösungen, aber die haben nichts mit länger Arbeiten zu tun:

  1. Work smart, not (too) hard: Was sich digitalisieren lässt, muss schnellst möglich digitalisiert werden. Ob in Schulen, Restaurants, Arztpraxen oder Behörden - Digitalisieren bedeutet skalieren, was wiederum nichts anderes heißt, als dass man mit gleichem Einsatz von Ressourcen stetig steigenden Output erzeugt. Wer in der Provinz keine Geschichtslehrer:innen mehr hat, kann diese auf einer Lernplattform mit Schüler:innen zusammenbringen, sodass alle Zugang zu guter Bildung und Chancen haben.

  2. Gehälter müssen in systemrelevanten Branchen angehoben werden, dazu gehören die Pflege und auch Kitas.

  3. Solange Frauen nicht gleichberechtigt am Arbeitsmarkt teilhaben können, wird sich am System kaum etwas ändern: Frauen müssen endlich besser in den Arbeitsmarkt integriert werden. Sie brauchen mehr Unterstützung bei der Care-Arbeit, bessere Wiedereinstiegsmöglichkeiten, mehr Lohngerechtigkeit und einen besseren Zugang zu Führungspositionen.

  4. Deutschland ist Einwanderungsland – und das ist auch gut so! Zeugnisse, Abschlüsse aus dem Ausland müssen schneller anerkannt werden, Menschen schneller in den Arbeitsmarkt integriert werden, ganz so, wie es die neue „Start-up Strategie” aus dem Wirtschaftsministerium von Robert Habeck vorsieht.

  5. Denken wir langfristig, nicht in Legislaturperioden: Wenn Wissenschaftler:innen ausrechnen, ab wann in diesem Land nicht mehr genügend Arbeitskräfte existieren, muss die Politik VORHER handeln.

  6. Starten wir eine weltweite Kampagne und zeigen der Welt, was wir Begehrenswertes zu bieten haben, gerade in Zeiten von Big Quit: Bis zu drei Mal mehr Urlaub als in den USA, mehr Rechte als Arbeitnehmer:innen wie etwa Elternzeit und auch noch jede Menge Freizeit. Wo bleibt die groß angelegte Kampagne, die um globale (IT)-Fachkräfte mit good old German „perks” wirbt? Stattdessen führen wir typisch deutsche Angstdiskussionen, wonach uns in Deutschland wegen des Fachkräftemangels „Gehaltsblasen” drohten wie im Silicon Valley, weil dort junge Programmierer:innen schonmal 160 000 Euro im Jahr verdienen. Mit diesem Gehalt in Palo Alto kommt eine Familie schlechter aus als mit 70 000 Euro in Berlin, so hoch sind die Lebenshaltungskosten dort.
Astrid Maier

Astrid Maier ist Chefredakteurin von XING News und langjährige Wirtschafts- und Tech-Journalistin. Vor ihrem Start bei XING war sie Chefreporterin für ada und leitete bei der Wirtschaftswoche die Ressorts Unternehmen & Märkte sowie Innovation & Digitales. Sie hat bei der Financial Times Deutschland das Handwerk Journalismus gelernt und später beim manager magazin über die globale Digital-Ökonomie berichtet. In ihrer Kolumne "Let's work it!" schreibt sie einmal im Monat über Ideen für eine neue Arbeitswelt.

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