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  • 10.05.2021
  • Christine Weißenborn

Radikale Transparenz

Gehälter, Strategiepapiere, Vorstandsbeschlüsse: Viele Tech-Start-ups teilen alles mit allen. Esoterik oder die Zukunft der Unternehmensführung?

Philip Siefer und Waldemar Zeiler sind angetreten, den Planeten mit Ökokondomen zu überziehen. Dass sie dabei unverhüllt vorgehen, versteht sich von selbst. Und so teilen die beiden Gründer des Berliner Start-ups Einhorn von der Gehaltszahl bis zum Tagebucheintrag fast alles mit der Welt. Auch den Prozess der Einstellung neuer Mitarbeiter:innen.

In einer Art Big-Brother-Experiment haben sie jüngst nach einem „Condom-CEO“ gefahndet. Die Suche ist in grellen Videoclips in der Rubrik Einhorny TV auf der Unternehmenshomepage zu bestaunen – oder bei YouTube. Dort erfährt man dann etwa von Kandidatin Paula Lambert, Sex-Expertin und Autorin des Buches „Eine Frau mit Penetrationshintergrund“, dass sie während des Bewerbungsgesprächs regelrecht mütterliche Gefühle für die zwei vollbärtigen Präservativ-Revoluzzer entwickelt habe.

Im Fall von Einhorn passt die Nabelschau zum Geschäftsmodell. Doch auch ansonsten gelingt ihnen der Spagat zwischen Transparenz und Tampons aus Biobaumwolle ziemlich gut. Im Jahr 2019 haben Zeiler und Siefer nach eigenen Angaben fünf Millionen Euro umgesetzt und immerhin 300 000 Euro Gewinn erwirtschaftet, was in Berlin nicht jedes Start-up von sich behaupten kann.

„Wir sehen uns als Labor für eine neue Art, Unternehmen zu leben“, sagt Marketingchef Markus Wörner. Und einer der Schlüssel liege in radikaler Offenheit. Das Berliner Start-up ist nicht das einzige, das sich strategisch entkleidet. Wie so oft ist der Trend zur Transparenz im Techsektor aus den USA nach Europa geschnappt.

Offenheit ist in


Das amerikanische Onlineunternehmen Fast verspricht nicht nur den schnellsten, sichersten und einfachsten Online-Check-Out der Welt, sondern stellt außerdem sämtliche Präsentationen seiner Strategie ins Netz. Die Verlagsplattform Ghost macht den gesamten Prozess des Publizierens publik – und verrät im Livestream sämtliche Unternehmenskennzahlen.

Beim Onlinebezahldienst Stripe ist die E-Mail-Kommunikation vom CEO bis hin zum Praktikanten für alle Mitarbeiter:innen einsehbar. Und das E-Commerce-Unternehmen Gumroad hält seit dem vergangenen Jahr öffentliche Vorstandssitzungen ab. Jeder solle das Gefühl bekommen, dazuzugehören, sagt Gumroad-Gründer Sahil Lavingia.

Was auf den ersten Blick nach Silicon-Valley-typischer Start-up-Hybris klingt, ist tatsächlich ein völlig neuer Umgang mit der Wahrheit. „Radical transparency“ nennt sich die Zuspitzung des „Sharing is caring“-Gedankens, der schon Unternehmen wie Airbnb, Uber oder Wikipedia groß gemacht hat – nur dass nun eben nicht Informationen, sondern Interna geteilt werden

 „Für viele Menschen wird Transparenz zu einer Einstellungsfrage und zur Grundlage von Vertrauen“, sagt Stephan Hoursch, Gründer der Kommunikationsberatung Klenk & Hoursch. Sie hilft dabei, Mitarbeiter:innen zu gewinnen, die bei jungen Unternehmen oft wenig andere Anhaltspunkte haben. Und auch Investor:innen zeigen sich von jenen beeindruckt, die ihr Innerstes nach außen kehren. „Offenheit“, sagt Hoursch, „ist schlicht in.“

Vor allem hilft sie dabei, Kund:innen zu gewinnen. In einer Zeit, in der die Grenzen zwischen Fakt und Fiktion verwischen und Tradiertes immer tattriger scheint, verlangt die Welt nach Wissen. Einer Umfrage des US-Softwareunternehmens Sprout Social zufolge glauben inzwischen 86 Prozent der Amerikaner, transparente Unternehmen seien wichtiger denn je. 73 Prozent der Konsument:innen sind sogar bereit, mehr für ein Produkt zu bezahlen, dass vollkommene Durchsichtigkeit gewährt.

„Bei steigender Komplexität spielt Vertrauen für Entscheidungen eine immer größere Rolle“, sagt Hoursch. Er ist sich deshalb sicher, dass „der Trend zur Transparenz nicht nur bleiben, sondern sich sogar verstärken wird“. 

Waldemar Zeiler sieht sein Start-up Einhorn als Labor für eine neue Art der Führung. Foto: IMAGO / tagesspiegel

Losgetreten hat die Bewegung das in San Francisco gegründete Social-Media-Start-up Buffer, mit dessen Software sich Beiträge in sozialen Netzwerken vorplanen lassen. Mitgründer Leo Widrich wollte ein Unternehmen aufbauen, bei dem weder er noch seine Mitarbeiter:innen sich verstellen müssen.

Bei Buffer wird etwa der Umsatz in Echtzeit angezeigt. Man erfährt, wie viele Frauen und Männer dort arbeiten (mehr Männer), wie alt die Angestellten sind (zwischen 25 bis 35), ob sie Kinder haben (64 Prozent sind kinderlos) oder beim Militär waren (wenige). Animierte Statistiken zeigen außerdem, dass der CEO bei Buffer 276 250 Dollar verdient – falls sein Wohnort in einer Stadt mit durchschnittlichen Lebenshaltungskosten liegt.

Für Widrich lohnt sich diese Offenheit finanziell, weil die Mitarbeiter:innen mehr mitdenken und Fehler finden: „Das ist Gratisarbeit, die du nicht bekommst, wenn du das für dich behältst“, sagte er einmal in der „Süddeutschen Zeitung“. Klingt plausibel. Aber hat er recht?

Die Vorteile der Geheimnisse


Der Philosoph Byung-Chul Han zum Beispiel ist sich da nicht so sicher. Er hat Bedenken, wenn er an eine Welt denkt, die nichts mehr verbirgt. „Die Transparenzgesellschaft ist eine Gesellschaft des Misstrauens und des Verdachts, die aufgrund des schwindenden Vertrauens auf Kontrolle und Überwachung setzt“, schreibt er in seinem Buch „Transparenzgesellschaft“.

Durchlässigkeit vernichte Rückzugsräume, weil dadurch mehr Effizienz und mehr Leistung erwartet werde. Auch der Arbeits- und Organisationspsychologe Theo Wehner von der ETH Zürich glaubt, dass eine offene Firmenkultur Geheimnisse brauche – solange sie sich nicht gegen die Mitarbeiter:innen wenden. Wehner: „Man muss sich als Unternehmen immer fragen: Wie trüb ist klar genug?“

Ist die Transparenz der Techwelt also nichts weiter als ein schlauer Marketinggag? Hilmar Schneider vom Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit (IZA) in Bonn sieht sie mit gemischten Gefühlen. Einerseits führe beispielsweise das „Experimentieren mit Verantwortungsdelegation“ punktuell „zu sehr aufregenden neuen Erfahrungen in der Unternehmensführung“, sagt er.

Dass die Idee, alles allen zugänglich zu machen, beliebig skalierbar sei, glaubt der Arbeitsökonom allerdings nicht. „Was hier und da an neuen Formen der Unternehmenskultur in einer einzigartigen Konstellation funktioniert, lässt sich nicht verallgemeinern.“

Selbst wenn alle Unternehmen sich so transparent aufstellten wie der Kondomhersteller Einhorn, würde das der Menschheit Schneider zufolge nicht helfen: „Wir können die Menge an Informationen gar nicht verarbeiten.“ Hinzu kommt, dass sich nicht alle Mitarbeiter:innen gleichermaßen wohlfühlen, wenn alle alles über sie wissen. Der Wirtschaftswissenschaftler David Card von der University von Kalifornien in Berkeley etwa stellte fest, dass plötzliche monetäre Offenheit oft eher für Unmut als Zufriedenheit sorgt. Zu sehen, dass andere mehr verdienen, frustriert nämlich ganz schön.

Und ein Forschungsteam rund um die Harvard-Ökonomin Zoe Cullen kam zu dem Ergebnis, dass eine hohe Gehaltstransparenz die Durchschnittslöhne um bis zu 25 Prozent senkt – weil es schwieriger wird, ein überdurchschnittliches Salär zu verhandeln. Das trifft besonders wettbewerbsintensive Branchen, die um kostbare Arbeitskräfte konkurrieren.

In einer Analyse der Beratungsgesellschaft McKinsey heißt es außerdem: „Ein hohes Maß an Sichtbarkeit kann Kreativität einschränken, da die Menschen das wachsame Auge ihrer Vorgesetzten fürchten.“ Der offene Austausch von Informationen könne auch nach hinten losgehen, schreiben Julian Birkinshaw und Dan Cable von der London Business School. 

Wahrhaftige Transparenz


Das zeigt der Fall des Mode-Start-ups Everlane. Das Unternehmen versprach im Jahr 2017, die komplette Produktionskette offenzulegen. Diese Vision radikaler Transparenz überzeugte – zumindest die Konsumenten. Nach nur fünf Jahren am Markt nahm Everlane eigenen Angaben zufolge bereits 50 Millionen Dollar ein.

Die Markenbewertungsplattform „Good on You“ allerdings kam zu einem eher unschönen Urteil: Everlane habe weder einen Nachhaltigkeitsbericht verfasst noch Initiativen ergriffen, um den Verbrauch von Wasser oder CO2 zu reduzieren und für faire Löhne zu sorgen. Weitere Wellen der Empörung schwappten über das hippe Westküsten-Start-up, als ehemalige Mitarbeiter:innen ihrem Exarbeitgeber Scheinheiligkeit und Greenwashing vorwarfen.

Die Moral von der Geschichte? „Transparenz darf sich nicht nur auf die Zugänglichkeit von Informationen beziehen“, sagt Berater Hoursch. Sie muss in eine gute Geschichte verpackt werden, einen Mehrwert schaffen, wahrhaftig sein. „Ein 100 Seiten langer Beipackzettel für alles und jedes mag Informationen verfügbar machen, Transparenz stellt er nicht her.“

Auch Buffer hat inzwischen manche Maßnahme wieder kassiert. Nicht mehr alle E-Mails sind für alle zugänglich. Gründer Joel Gascoigne musste im Jahr 2016 elf Prozent seiner Mitarbeiter entlassen – aber ging damit immerhin ehrlich um. Der Schritt sei „nicht das Resultat eines sich verändernden Marktes, sondern komplett selbst verschuldet“, sagte er.

Geschadet hat es Buffer nicht, im Gegenteil. Moderne Kund:innen auf der Suche nach Wahrheit honorieren Ehrlichkeit selbst im Falle des Scheiterns. Laut einer McKinsey-Studie geben 85 Prozent der Menschen einem Unternehmen nach einer schlechten Erfahrung eher eine zweite Chance, wenn es in der Vergangenheit transparent war. Und 89 Prozent sagen, dass es ihr Vertrauen zurückgewinnen kann, wenn es einen Fehler zugibt und transparent macht, welche Schritte das Problem lösen sollen.

Auch Philip Siefer und Waldemar Zeiler von Einhorn haben ihre Suche nach einem CEO offen damit begründet, dass es zwischen ihnen Differenzen gegeben habe. Heute funktioniert das Unternehmen hierarchiefrei. Ganz ohne Chef. „Bei uns sind eigentlich nur die Passwörter geheim“, sagt Marketingleiter Markus Wörner – und die Snackschublade mit der richtig guten Schokolade.

Titelbild: Getty Images

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