Noch ist eine übergreifende digitale Welt mehr eine Vision als ein konkretes Versprechen. Doch Unternehmen können kaum verlieren, wenn sie sich heute schon erste Gedanken über ihren Auftritt im Metaversum machen.
Die Pioniere sind angekommen. Und es sind, natürlich, Stripclubs und Werbevermarkter. An den Rändern der globalen Gamingplattform Roblox entstehen immer wieder virtuelle Räume, in denen leicht bekleidete Avatare zum Tanz bitten – im Gegenzug gegen die eigene Währung „Robux“, wie der Rolling Stone berichtet. Und in der Cryptovoxels-Welt, die auf der Ethereum-Blockchain basiert, finden sich virtuelle Litfaßsäulen und Plakatwände, auf denen häufig für andere Kryptowährungen geworben wird – organisiert von einem Unternehmer aus Norddeutschland.
Die Beispiele zeigen: Das Metaversum ist noch gar nicht richtig da. Und nimmt doch schon erste Formen an. Weltweit treiben gerade große Tech-Konzerne die Idee einer übergreifenden digitalen Welt an. Die Vision: Virtuelle Abbilder der Nutzer:innen sollen sich frei bewegen, miteinander kommunizieren oder einkaufen können. Wo heute zwischen Chatgruppen, E-Commerce oder Gaming-Seite die Plattform, manchmal sogar das Gerät gewechselt werden muss, soll sich im Metaversum alles unter einem digitalen Dach finden. „Es geht um einen dauerhaft genutzten digitalen Raum, der der Welt einen Spiegel vorhält – und die Einschränkungen der Realität überwindet“, formuliert es Patrick Comboeuf. Der Schweizer ist Principal bei der Digitalberatung Etventure, die zu EY gehört, und konzipiert Studiengänge für die Hochschule für Wirtschaft Zürich.
Zweites Leben für die „Second Life“-Idee
Was Anfang der 2000er Jahre auf der Plattform „Second Life“ ausprobiert wurde, soll nun mit den heutigen technologischen Möglichkeiten wahr werden. VR-Brillen helfen, tatsächlich in eine andere Welt abzutauchen und sich mit befreundeten Avataren in einem digitalen Café gegenüberzusitzen. Das Internet der Dinge vernetzt immer mehr Geräte – so lässt sich der Jogginglauf dank Tracking-Funktion von Uhr oder Smartphone in der virtuellen Welt spiegeln. Und Kryptowährungen ermöglichen es, sämtliche Einkäufe in der Cyber-Shopping-Mall abzuwickeln.
Gerade in populären Gaming-Plattformen wie Fortnite oder eben Roblox sind einige dieser Entwicklungen entstanden, weil die Spieler:innen hier große Teile ihrer Zeit verbringen – mal mit, mal ohne die Unterstützung der Betreiber. Der Film „Ready Player One“ visualisierte 2018 eine Welt, in der die Menschen große Teile ihres Alltags in einer virtuellen Wirklichkeit verbringen. In die breite Öffentlichkeit rückte das Thema mit der Ankündigung von Facebook-Gründer Mark Zuckerberg in diesem Sommer, das soziale Netzwerk zu einer „Metaverse-Company“ umzubauen.
Noch ist das Metaverse eine abstrakte Tech-Utopie, doch Facebook möchte das ändern. (Foto: Memories on 35mm/Unsplash)
In diesen Tagen legten Top-Manager von Facebook nach: Man arbeite an der „nächsten Computing-Plattform“, die „die menschliche Verbindung vertiefen soll, unabhängig von physischem Abstand und ohne an bestimmte Geräte gebunden zu sein“, heißt es in einem Blog-Beitrag von Ende September. Dafür müssten nicht nur technische Protokolle entstehen, sondern auch neue Regulierungen und Gesetze. Die Roblox-Stripclubs, auf dem sich auch Minderjährige mit ihren Avataren aufhalten, zeigen die Risiken der neuen virtuellen Welt gut auf. Vom Start weg wolle man Advokaten für Menschen- und Bürgerrechte in die Entwicklung des Metaversums einbinden, beteuert Facebook.
Nimmt man die Ankündigung vieler ambitionierter Konzerne ernst, würden sie das über Bord werfen, was sie groß gemacht hat. Statt abgeschlossener Plattformen soll es im Metaversum keine spürbaren Grenzen zwischen Anbietern geben. Facebook hat frisch ein 50-Millionen-Dollar schweres Programm angekündigt, um externe Partner für die Idee zu begeistern. „Das Metaversum ist nicht ein einzelnes Produkt, das eine Firma allein bauen kann“, heißt es im Blogpost. Noch ist das nur eine Ankündigung. „In einer dezentralen Welt gibt es ‚by Design‘ keinerlei Monopole“, beschreibt Digitalberater Comboeuf die Idee. Er glaubt daran, dass dieser Paradigmenwechsel gelingen kann: „Wenn es irgendwo auf der Welt einen Ort gibt, wo Kannibalisierung nicht als etwas Schlechtes angesehen wird, dann ist es das Silicon Valley.“
Abverkauf an Avatare
Was Tech-Konzerne als Vision verkaufen, bedeutet für viele Unternehmen vor allem Ungewissheit. Ohne klare Standards, ohne eindeutiges Ziel, kann es schwer sein, sich mit einem Thema wie dem Metaversum auseinanderzusetzen. Doch Expert:innen sprechen dem Konzept ein großes Potenzial zu: „Wir sehen das Metaversum ohne Zweifel als das nächste kreative Kapitel für Marken“, sagt Nick Pringle, Kreativchef der globalen Innovationsberatung R/GA. „Noch ist das Thema höchst experimentell, aber das Potenzial für Innovationen ist groß.“
Ein naheliegender Schritt ist der Sprung in das Metaversum für Unternehmen, die ohnehin in der digitalen Welt zuhause sind und ein „tech-loving“ Publikum bedienen, wie es Pringle formuliert. In diesen Firmen kursieren Begriffe wie das Verkaufskonzept „Direct-to-Avatar“, also die gezielte Ansprache von digitalen Abbildern. Auf der Plattform Roblox eröffnete Anfang September „Vans World“, ein virtueller Skatepark, der auf die gleichnamige Schuhmarke aufmerksam machen soll. Und vor wenigen Wochen kündigte Roblox gemeinsam mit der Warner Music Group ein digitales Konzert der US-Band Twenty One Pilots an.
Der virtuelle Skatepark „Vans World“ soll Skateboarding, Fashion und Community vereinen. (Foto: Youtube/Roblox)
Noch sind es vor allem Konzepte aus der realen Welt, die in die virtuelle Realität übernommen werden – vom gesponserten Skatepark bis zum Stripclub. Enden muss es dabei aber nicht: „Erfolgreiche Marken werden die sein, die nicht einfach ihre bestehenden Produkte im Metaversum replizieren, sondern kreativ darüber nachdenken, welchen Mehrwert sie bieten können“, sagt Pringle.
Utopie als Übungsraum
Doch auch für Unternehmen, die sich heute nicht zur digitalen Speerspitze zählen, kann das frühe Metaversum ein spannender Übungsraum sein. Noch herrscht auf vielen heutigen Plattformen eine Art Wildwest-Stimmung: Grenzen können neu abgesteckt, virtuelle Grundstücke besetzt, Marken gesichert werden. Das Risiko, dass viele dieser Auftritte nur auf wenig Resonanz stoßen und manche Plattform sogar verödet, ist groß. Facebook selbst spricht von einem Zeitraum von zehn bis 15 Jahren, bis der Produktkatalog des Metaversums vollständig ist.
Doch umgekehrt ist der Aufwand für Unternehmen in dieser frühen Phase überschaubar. „Wenn man ein Jahr zu früh dran ist, ist das nicht schlimm“, sagt Digitalberater Comboeuf, „die Lernerfahrung geht ja nicht verloren.“ Zudem birgt es Chancen, wenn Unternehmen das Metaversum als eine Metapher für die digitale Transformation betrachten. Denn unter der Vision kommen zahlreiche Zukunftsthemen zusammen: Es geht um den Einsatz von Technologien wie Virtual oder Augmented Reality ebenso wie um die erfolgreiche Kundenansprache einer jungen Generation. Häufig tun sich Firmen schwer damit, ohne ein klares Ziel nach Anwendungsmöglichkeiten zu suchen.
Ein Auftritt im Metaversum kann ein Ziel sein, auf das im Team leichter gemeinsam hingearbeitet werden kann. Beiläufig stellen sich dann auch andere Lerneffekte ein. „Die Auseinandersetzung mit dem Metaversum als Stellvertreter führt dazu, dass man sich im Unternehmen ganz andere Fragen stellt“, sagt Comboeuf, „und durch diese Fragen kann man auf neue Ideen kommen.“
Titelbild: Luke Paris/Unsplash