Nirgendwo fasst das Metaversum schneller Fuß als unter Südkoreas Millennials. Auch die Regierung in Seoul hat bereits ein virtuelles Abbild der Hauptstadt geplant.
Als Mark Zuckerberg die Namensänderung von „Facebook“ zu „Meta“ ankündigte, zog er damit eine ganze Menge Spott auf sich. Insbesondere das einhergehende Promo-Video wirkte auf viele befremdlich, die Idee dahinter wohl auch ein wenig beängstigend: Es zeigte Zuckerberg als digitalen Avatar beim Kartenspielen mit seinen Freund:innen in einer Art Raumschiff. Viele von uns haben sich damals wohl gefragt: Wieso sollte man sein Leben in einer künstlichen Scheinwelt verbringen?
In Südkorea hingegen ist das Konzept des Metaversum so weit verbreitet wie in kaum einem anderen Land der Welt. Der südkoreanische Medienberater Kang Jeong-su argumentierte unlängst in einem vielbeachteten Essay, dass Meta das bestimmende Konzept für die künftige Entwicklung des Internets ist. Genau wie 2007 die „Cloud“ den traditionellen „Server“ abgelöst hat, heißt das künftige Paradigma nun „Meta“: ein kollektiver Raum, der durch die virtuelle Erweiterung der physischen Realität entsteht.
Dass es sich dabei nicht nur um ein technisches Gimmick handelt, versucht derzeit die Stadtregierung von Seoul unter Beweis zu stellen. Anfang November hat sie angekündigt, umgerechnet 2,8 Milliarden Euro in eine eigene Metaversum-Plattform zu investieren, um die Bürokratie der Hauptstadt regelrecht zu revolutionieren. Ab 2023 sollen dann die Hauptstadtbewohner:innen ihre Behördengänge mit Hilfe von Headset und VR-Brille rein virtuell abhalten können. Somit kann jede:r Bürger:in etwa einen Termin im Rathaus bekommen, ohne im Stau steckenzubleiben oder eine Wartenummer ziehen zu müssen.
Wie das ausschauen soll, ließ sich bereits bei der Pressekonferenz erahnen: In einem virtuell animierten „Town Hall Meeting“ stellte Seouls Bürgermeister Oh Se-hoon auf einer Bühne seine Zukunftsvision vor, während die Journalist:innen von den Publikumsrängen aus ihre Fragen stellten. Alle Teilnehmer:innen traten als digitale Avatare auf.
Das virtuelle Town-Hall-Meeting zur Meta-Vision für die Stadt Seoul.
Dass all dies erstmals in Südkorea erprobt wird, ist meiner Meinung nach nur passend. Bereits vor einigen Jahren, als ich selbst noch in Seoul lebte, experimentierten etliche Tech-Unternehmen bereits mit den unterschiedlichsten Spielformen der virtuellen Realität. 2018 etwa hat SK Telekom einen Meta-Streaming-Dienst namens „Oksusu Social VR“ gestartet, der im Grunde wie ein virtuelles Wohnzimmer funktioniert: Auf der Plattform werden gemeinsame Räume für bis zu acht Nutzer:innen bereitgestellt, um mit Headset und VR-Brille gemeinsam einen Film anzuschauen. „Selbst wenn du zuhause in Pyjamas sitzt, kannst du trotzdem dein perfektes Date genießen”, lautete ein Marketing-Slogan des koreanischen Telekomunternehmens.
Doch um ehrlich zu sein hat sich der Sinn für mich damals kaum erschlossen: Wieso sollte man sich digital verabreden, wo man sich doch auch persönlich zum Filmabend treffen kann? Zwei Jahre inmitten einer globalen Pandemie leuchtet mir die Idee dahinter deutlich mehr ein. Seit Anfang 2020 sitze ich nun bereits aufgrund der geschlossenen Grenzen in China fest, der Kontakt zu meinen Eltern und Freunden bleibt auf Skype beschränkt. Ein gemeinsamer Abend im Metaversum wäre da auf jeden Fall eine Bereicherung.
Corona mag die Entwicklung beschleunigt haben, doch schon zuvor fiel das Konzept einer virtuellen Parallelwelt ohne physischen Kontakt auf fruchtbaren Boden. Das hat vor allem damit zu tun, dass die Koreaner:innen eine überaus technikbegeisterte und internetaffine Bevölkerung sind. Während weltweit etwa die Hälfte der Menschen soziale Medien benutzen, sind es im Land am Han-Fluss knapp 90 Prozent. Nur in den Vereinigten Arabischen Emiraten ist die Rate noch höher.
Von den meisten Koreaner:innen wird der digitale Fortschritt tendenziell als etwas positives betrachtet, und zwar nicht zuletzt, weil die digitale Revolution der Gesellschaft zu beachtlichem Wohlstand verholfen hat. Dementsprechend hat sich der Gedanke auch innerhalb älterer Generationen durchgesetzt, dass man bei aufkommenden Trends stets vorne dabei sein muss. Oder, wie mir einmal eine Kommunikationswissenschaftlerin der Seoul National University sagte: „In unseren sozialen Genen ist uns antrainiert worden, dass wir uns konstant wandeln und anpassen müssen“.
Doch es kommt noch ein weiterer gesellschaftlicher Faktor hinzu. Die Idee einer digitalen Parallelwelt ist in Korea auch deshalb so verheißungsvoll, weil die analoge Realität insbesondere für die Millennial-Generation ungleich belastender ist im Vergleich zu Europa. Der Leistungsdruck ist riesig, die Arbeitszeiten brutal und die Hierarchien streng. Vor allem aber lässt die Gesellschaft wenig Freiraum, um seine individuellen Wünsche und Leidenschaften auszuleben. In der virtuellen Realität hingegen wird der introvertierte Büroangestellte schnell mal zum Partylöwe und die konformistische Studentin zur politischen Aktivistin.
Es gibt bereits einige Metaversen, das vielleicht am stärksten fortgeschrittene ist die seit Februar 2020 öffentlich zugängliche Online-Plattform „Decentraland“. Innerhalb der 3D-Welt können die Nutzer:innen virtuelle Immobilienparzellen kaufen, als Zahlungsmittel wird eine Kryptowährung namnes MANA akzeptiert. Während die ersten Gebäude vor rund vier Jahren für rund eine Handvoll Dollar den Besitzer wechselten, sind einige von ihnen mittlerweile mehrere Hunderttausend Dollar wert.
Bei Decentraland kann man virtuelle Immobilien realer Orte erwerben. Foto: Marco Verch | ccnull.de | CC-BY 2.0
Im Grunde ist dies nur der nächste logische Schritt: Wenn man sich im Metaversum mit Freund:innen treffen, shoppen gehen und spazieren kann – wieso dann nicht auch ein virtuelles Kino betreiben oder einen Karaoke-Laden eröffnen? Das Londoner Auktionshaus Sotheby´s hat im Juni eine digitale Nachbildung von sich auf Decentraland schaffen lassen, um dort digitale Kunst in Form von NFT-Unikaten auszustellen und zu verkaufen.
Auch in Südkorea wurde bereits eine ähnliche Plattform namens „Zepeto“ entwickelt, die laut eigenen Angaben mehr als 200 Millionen Nutzer:innen weltweit registriert hat. Marken wie Nike oder Ralph Lauren haben im Zepeto-Metaversum bereits virtuelle Geschäfte eröffnet, koreanische Unternehmen halten regelmäßig digitale Mitarbeiter:innen-Workshops ab und etliche K-Pop-Bands nutzen die Plattform, um mit ihren Fans in Kontakt zu treten.
Es ist wohl kein Zufall, dass sich ausgerechnet im Koreanischen unlängst ein Begriff für diese neue Art der menschlichen Interaktion eingebürgert hat: „Untact“ ist eine Anspielung auf das englische „contact“, nur mit negativem Präfix.
Dennoch bleibt zu hoffen, dass sich die Worte des führenden Metaversum-Experten Südkoreas als wahr herausstellen: Laut Kim Sang-kyun, Professor an der Kangwon National University, sieht die Jugend des Landes virtuelle Realität keineswegs als Alternative oder gar als Ersatz, sondern vielmehr als eine zusätzliche Facette des Alltags.
Titelbild: Victor Rodriguez/Unsplash