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  • 12.05.2021
  • Miriam Meckel

Mensch, träum weiter

Träume zu teilen ist ein Traum der Menschheitsgeschichte. Mit KI soll das möglich werden. Als Transparenzterror oder Tor zur kreativen Revolte gegen die Norm?

Als Alice dem roten König begegnet, ist das ein metaphysischer Puzzlemoment im Wunderland. Der rote König liegt eingerollt am Boden und schnarcht. „Er träumt jetzt“, sagte Tweedledee, einer der Zwillinge, die Alice durch ihr Wunderland und hinter die Spiegel begleiten. „Und wovon, glaubst du, träumt er?“ „Das kann niemand erraten“, antwortet Alice. Aber sie wüsste es gerne, so wie ein Großteil der Menschheit immer gerne gewusst hätte, wovon andere Menschen träumen und was diese Träume wohl bedeuten.

Die Erforschung, Interpretation, ja auch das Teilen von Träumen ist selbst ein Traum der Menschheitsgeschichte. Keiner, der einen im Schlaf ereilt. Vielmehr ist der geteilte Traum, das Wissen über die unterbewussten Geheimnisse anderer Menschen, eine Utopie, realitätsverändernd. Wer den Traum mit einem anderen Menschen teilt, verliert ein Geheimnis, aber gewinnt Nähe, schafft die Voraussetzung für eine besondere Art der Intimität. Oder für eine besondere Art privaten Transparenzterrors.

Vor dem Teilen kommt das Entschlüsseln. Wir müssen Träume dechiffrieren und verstehen können, um sie zu teilen. Daran haben sich Generationen von Psycholog:innen und Therapeut:innen versucht, ohne zu einem einheitlichen, allgemein gültigen Ergebnis zu kommen.

Als Sigmund Freud seine Patient:innen zu Beginn des 20. Jahrhunderts in seinem Behandlungszimmer in der Berggasse 19 in Wien empfing, mag nicht jede:r von seinen praktischen Interpretationen, von den Ausbrüchen des Unterbewussten im Traum oder Freuds Übersetzung von Traumbildern in Text überzeugt worden sein. So ist es auch heute noch. Es gibt nicht den einen eindeutigen Ansatz der Traumdeutung, wie Freud ihn praktizierte. Und so gibt es auch nicht das eine globale Traumwörter- und bilderbuch. Wie aber sollen wir Träume teilen, wenn uns schon die Sprache fehlt, sie zu verstehen?

Technologie der Traumzeichnung


Hier kommt die künstliche Intelligenz ins Spiel mit dem Unterbewussten. Sie soll genau dieses Lexikon der Traumdeutung liefern. 2013 gelang es dem japanischen Neurowissenschaftler Yukiyasu Kamitani, Träume mithilfe eines Computers zu visualisieren. Er ließ seine Proband:innen ein Nickerchen in einem MRT machen und weckte sie regelmäßig, um sie von ihren Träumen erzählen zu lassen. Das MRT zeichnete die Gehirnaktivitäten während der Schlafphasen auf, und ein Computerprogramm setzte einzelne Traumbestandteile in kurze Videos um. 70 Prozent der Videos zeigten ziemlich genau das, was die Proband:innen berichteten, geträumt zu haben.

Einige Jahre später gelang es einem Team um Kamitani, die vielschichtigen visuellen Aktivitäten des Gehirns im Bereich des Neocortex auf die hierarchischen Ebenen eines tiefen neuronalen Netzwerks zu übertragen, um so Bilder zu generieren, die den ursprünglich im Gehirn produzierten Bildern noch ähnlicher sind. Auf diesem Wege lassen sich Träume oder Halluzinationen in Bilder und Videos verwandeln, die dann – theoretisch – geteilt werden könnten. Ein Traumbild oder -video könnte dann auf Twitter und TikTok geteilt werden. Mit dem gemeinsamen aktiven Träumen hat das so viel zu tun wie Pornhub mit einem Liebesakt.

„Es gibt theoretisch keinen Grund, warum es nicht irgendwann möglich sein sollte, Zugang zu den Träumen anderer zu bekommen, sie auszulesen“, sagt die Neurologieprofessorin Susana Martinez-Conde aus New York. Dann kommt das große Aber: „Wir kennen nur leider noch nicht den neuronalen Code. Deshalb wissen wir nicht, wie bewusste Erfahrung im Gehirn verarbeitet wird.“ Wir verstehen also nicht einmal genau, wie wir verstehen, denken, uns erinnern.

Das ist insofern lustig, als einige Vordenker:innen des Silicon Valley, wie Googles Chef-Zukunftsdenker Ray Kurzweil, seit Jahren propagieren, wir würden unsere Gehirne bald in Gänze in einen Computer laden und so auch unabhängig von unseren Körpern weiterexistieren können. Die Mathematisierung des Denkens ist auch so ein Traum der Menschheitsgeschichte. Solange er nicht vom Traum zur Wirklichkeit wird, bleiben Traumentschlüsselung und geteilte Träume, nun ja, eine Traumvorstellung.

Träume durch KI zu erkennen und zu visualisieren, das geht und verspricht weitere Potenziale. Dieses „Dream-Scanning“ hat mit dem Teilen von Träumen, dem „Dream-Sharing“, oder gar dem gemeinsamen Träumen, dem „Co-Dreaming“, allerdings nichts zu tun. Robert Stickgold, Professor für Psychiatrie an der Harvard University, ist skeptisch. „Wir schaffen es doch kaum, uns klar und deutlich per Sprache mit anderen über unsere Gedanken auszutauschen.“ Träume teilen mithilfe von maschinellem Lernen und KI-Systemen? „Keine Chance!“ Wer erwartet, in diesem Leben die nächtlichen Träume der Geliebten mit einer KI-App heimlich abzugreifen und nachzuerleben, wartet vermutlich über den Tod hinaus. Träume teilen bleibt derzeit eine Transzendenzerfahrung. Dazu braucht es weniger KI als Imaginationskraft und den Glauben an das Übersinnliche.


Lässt sich der Schlaf mit Technologie optimieren? Darüber sprechen Leonie Tabea Natzel und Milena Merten im ada-Podcast.

Prozess der Sinnesreinigung


Träume, so viel wissen wir aus Jahrhunderten der Traumanalyse, entstehen in der jeweils individuellen Gefühls- und Fantasiewelt der Träumer:in. Sie ergeben nur individuell einen Sinn. „Wir können Träume nicht teilen, ohne unser innerstes Selbst zu teilen“, sagt der Neurowissenschaftler Adam Haar Horowitz vom MIT Media Lab. Vielleicht sind Träume also genau der Teil unserer variantenreichen menschlichen Fantasie-, Erfahrungs- und Ausdruckswelten, der eben nicht aufs Teilen ausgerichtet ist, sondern darauf, uns in der individuellen Selbsterfahrung unserer selbst zu vergewissern.

Der Traum existiert nur in der Sinneswelt des jeweiligen Ich. Ein (unter)bewusster Prozess der emotionalen und kognitiven Orientierung, Ordnung und Reinigung, in dem kein anderer etwas zu suchen hat. Mithilfe von Machine-Learning diesen Prozess in eine intersubjektive Sprach- und Bilderwelt übersetzen zu wollen, wird immer ein nur halbwegs tauglicher Versuch bleiben, eine Sprache für alle verständlich zu machen, die eigentlich nur den jeweils Sprechenden gehört.

Ist der Traum also das letzte unbekannte Terrain menschlicher Existenz, das sich der Eroberung durch künstliche Intelligenz entziehen wird? Ja, und doch auch nein. Vielleicht haben wir einfach falsche Erwartungen. Vielleicht geht es ja gar nicht um die biologische Dimension des Traumteilens, um die Entschlüsselung der neuronalen Aktivitäten des Gehirns beim Träumen. Vielleicht ist auch das Teilen von existierenden Träumen der falsche Ansatz? Vielleicht muss man sich dem Traum von der anderen Seite nähern. Nicht durch die vermeintliche Entschlüsselung des schon Geträumten, sondern durch die gemeinsame Erschaffung dessen, was noch niemand zu träumen gewagt hat.


Wenn Menschen träumen, verarbeiten sie zum einen im Gehirn ihre täglichen Erfahrungen. Sie organisieren sie in größeren Zusammenhängen, ordnen sie ein und sorgen dafür, dass weniger Wichtiges zur virtuellen Müllhalde individueller Lebenserfahrung abtransportiert wird. Viel bedeutsamer aber ist, dass im Traum das Unerfahrene, Ungedachte möglich wird.

Träume sind oft unlogisch, gar aberwitzig, verstoßen gegen die Gesetze der Natur und handeln von fantastischen Geschehnissen. Wenn Menschen träumen, begehen sie einen wiederkehrenden Akt nächtlicher Subversion: der Widerstand gegen das „Normale“, Regelhafte und Erwartete. Um in der Realität zu bestehen, brauchen wir die Träume als Dehnungsfugen der Fantasie. Und damit sind wir wieder bei Alice und ihrem Wunderland.

Bei einer Begegnung mit der Königin lernt Alice, Erinnerung ganz neu zu begreifen. „Das ist ein armseliges Gedächtnis, das nur rückwärts funktioniert“, sagt die Königin zu Alice. Sie kann sich nämlich auch an Dinge erinnern, die in der Zukunft geschehen. Stellen wir uns also vor, wir könnten eine Verbindung herstellen zwischen der Fähigkeit des Menschen zu träumen und den Möglichkeiten künstlicher Intelligenz, über das Reinforcement Learning Träume in die Zukunft hinein fortschreiben zu lassen.

Visuelle Fantasiewelten


Google hat so etwas schon 2015 ausprobiert. Ein neuronales Netzwerk der Bilderkennung identifizierte die wesentlichen visuellen Merkmale eines jeden Bildes und verstärkte sie. Das so modifizierte Bild wurde dann wieder ins Netzwerk eingespeist. In diesem andauernden Feedback-Loop („DeepDream“) wurden die einzelnen Bilder bis zur Unkenntlichkeit verzerrt, aber es entstanden auch visuelle Fantasiewelten, teils beängstigend, teils betörend schön, die an die Verbildlichung von Halluzinationen und Drogentrips erinnern.

Ein solcher Prozess wäre auch in der Kombination menschlicher und künstlicher Träumereien denkbar. Ausgehend von den Daten eines menschlichen Traums simuliert die KI Alternativen zur Wirklichkeit – und eröffnet uns ein Tor in eine von Grenzen des alltäglichen Denkens befreite Zukunftstraumwelt. Der kollaborative Mensch-Maschine-Traum als konzeptionelle Simulation gegen die Unterdrückung des Außergewöhnlichen in der Wirklichkeit.

Dieser Ansatz findet sich auch in einigen Strängen der Lern- und Entwicklungspsychologie: In ihrer Forschung hat die Psychologieprofessorin Alison Gopnik von der University of California, Berkeley, herausgefunden, dass Kinder ihre kognitiven Fähigkeiten besser entwickeln können, wenn sie an das Unmögliche glauben. Vor allem sind sie besser in der Lage, das auszubilden, was die Forschung als „Theorie des Geistes“ („Theory of Mind“) bezeichnet – Annahmen darüber zu treffen, was kognitiv und emotional in anderen Menschen vorgeht, welche Motive und Intentionen sie antreiben, um so besser mit ihnen interagieren zu können. Travis Proulx, Psychologe an der Universität Tilburg in den Niederlanden, kommt in seiner Forschung zu ähnlichen Ergebnissen: Fantasiegeschichten können dazu beitragen, das menschliche Gehirn flexibler, kreativer und lernfähiger mit Neuem und Ungewohntem umgehen zu lassen.

Jede Veränderung, jede Annahme über das, was in Zukunft möglich sein könnte, setzt voraus, sich nicht von Bestehendem begrenzen zu lassen. Für die menschliche Intelligenz sind das die sozialen Normen, die solche Grenzen setzen. Für eine künstliche Intelligenz sind es die Daten, die ins System eingespeist werden und seine Annahmen formen. Träume können das menschliche Bewusstsein dekolonialisieren, von dem befreien, was es alltäglich besetzt hält. Und sie können die Prozesse einer KI über die Grenzen der sozialen Verzerrungen aus den historischen Daten hinausführen.

Lewis Carroll, Autor von „Alice im Wunderland“ und „Alice hinter den Spiegeln“, schreibt: „Es waren [...] so viele außergewöhnliche Dinge geschehen, dass Alice bereits glaubte, wirklich unmöglich sei fast nichts.“ Das wäre mal ein traumhafter Ansatz für die gemeinsame Zukunft von menschlicher und künstlicher Intelligenz.

Bilder: Jr Kopa on Unsplash

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