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  • 24.09.2021
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Mein Meta-Ich

Die großen Tech-Konzerne planen das Metaversum als virtuelle Zweitwelt. Tatsächlich leben wir längst darin.

Der letzte Schritt in der Vorbereitung einer großen Reise bleibt doch immer noch physisch – zumindest, wenn man in die USA einreisen möchte. Die vielen Antragsformulare für ein Visum, die Gebührenzahlungen, die Terminvereinbarung für das „Interview", das alles geht online. Die bürokratische Krönung ist dann die persönliche Vorsprache bei der Botschaft.

Bei mir hat die Vorsprache dieses Mal nur fünf Minuten in Anspruch genommen. Dafür war ich dennoch einen ganzen Tag zwischen Düsseldorf und Berlin unterwegs. Unverhältnismäßiger Aufwand – und eine besondere Erfahrung: ein Log-out aus der Alltagswelt, verbunden mit der Erkenntnis: Ich bin nicht mehr selbstwirksam. Wer in die US-Botschaft will, muss ohne Tasche und technische Geräte kommen. Also schließt man alles am Flughafen ein. Nur mit Kreditkarte und Antragsunterlagen geht es mit dem Taxi zur Botschaft. Das „Interview" besteht aus einer kurzen Wartezeit und drei formalen Fragen. Und so trete ich nach kurzer Zeit schon wieder auf die Straße. Der Flieger zurück geht erst viel später. Was also tun?

Ich mache bei dem herrlichen Wetter einen Spaziergang, eine wunderbare Idee. Wohin soll’s denn gehen? Intuitiv greife ich in meine Hosentasche zum Smartphone, aber da ist nichts, was mir den Weg weisen könnte. Dann gehe ich eben einfach los. Nach einer Weile passiere ich ein offenbar seit Langem verlassenes Haus, die Fenster blind und gesprungen. Irgendjemand hat in riesigen Lettern „Ich liebe Simone" auf das Haus gesprüht. Ich will ein Foto machen. Ein Griff in die Tasche – ach, nein, geht nicht, das Handy blieb ja am Flughafen.

Ohne Zugriff auf die virtuelle Existenz verfliegt alles

Das ist der erste Moment, in dem mir an diesem Tag wieder bewusst wird, was alles fehlt, wenn ich vom Netzwerk des allumfassenden Weltzugriffs entkoppelt bin. Während ich laufe, fällt mir ein, dass ich neue Kontaktlinsen bestellen muss. Ein Griff an die Tasche, seufz, geht nicht. Dann sollte ich mir das wenigstens aufschreiben, damit ich es nicht vergesse. Doch als To-do-Liste nutze ich eine App, einen Stift habe ich nicht mitgenommen. Mir kommt alles so ephemerisch vor, alles verfliegt, weil ich keinen Zugriff auf meine virtuelle Existenz habe.

Irgendwann muss ich mal zurück zum Flughafen. Tatsächlich habe ich keinen Schimmer, wie spät es ist. Eine Uhr trage ich nicht, dafür habe ich ja mein Smartphone. So frage ich schließlich einen älteren Herrn, wie spät es denn ist. Es ist spät. So spät, dass ich jetzt dringend ein Taxi brauche. Wo ich eines finden kann, weiß der Herr nicht. Rufen kann ich auch keins ohne Telefon. Dann die Idee: Ich nehme mir einfach einen Scooter und fahre so lange, bis ich zu einem Taxihalteplatz komme. Kurz währt die Begeisterung für diesen Einfall, dann ist klar: Dafür bräuchte ich eine App.

Unser Alltag ist das Metaversum

In den drei Stunden, in denen ich plan- und ziellos durch Berlin geirrt bin, habe ich auf etwa 25 Transaktionen verzichtet, die ich sonst ganz sicher vorgenommen hätte. Wie in einer Unterdruckkammer der Vergangenheit schwebte ich durch eine Welt, in der ich zwar physisch präsent, mit der ich aber kaum mehr verbunden war.

Die großen Tech-Konzerne sind alle dabei, das Metaversum zu bauen – die eine umfassende virtuelle Welt, in der wir zukünftig wie in einer Parallelwelt leben und Geld ausgeben sollen. Diese Welt gibt es schon. Sie ist unser Alltag, ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Es gibt mein Ich, das physisch in der Realität unterwegs ist. Und es gibt mein Meta-Ich, das durch die permanente Interaktion mit einem einzigen Gerät entsteht. Die Frage bleibt: In welcher Welt bin ich real, und in welcher bin ich ein Avatar?

Miriam Meckel

Miriam Meckel ist Mitgründerin und Geschäftsführerin von ada und Professorin für Kommunikationsmanagement an der Universität St. Gallen, Schweiz. In dieser Kolumne schreibt sie alle zwei Wochen über Ideen, Innovationen und Interpretationen, die Fortschritt bringen und unser Leben verbessern. Denn was die Raupe das Ende der Welt nennt, nennt der Rest der Welt einen Schmetterling.

Diese Kolumne erscheint sowohl beim Handelsblatt als auch bei uns. 

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