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  • 02.07.2021
  • Miriam Meckel

Mehr Chaos, bitte!

Die Schublade hat ausgedient. Sie kann maximal noch Ablageort für die Ordnungsrelikte nostalgischer Geister sein. An ihre Stelle treten nun die Algorithmen.

Die meisten Menschen lieben Ordnung. Das akribische Sortieren aller lebensweltlichen Erfahrung in vorhandene Kategorien garantiert einen Rest an Seelenfrieden, der durch die chaotische Welt ja schon genug herausgefordert wird. Je komplexer das Leben, desto wichtiger die Ordnung, um wenigstens eine Illusion der Beherrschbarkeit aufrechtzuerhalten.

Als Sinnbild hierfür steht die Schublade. Der Begriff des „Schubladendenkens“ aggregiert den kompromisslosen Sortier- und Kategorisierdrang des Menschen zum Schimpfwort. Wer dem Schubladendenken frönt, ist geistig nicht sehr flexibel.

Provokativ und doch auch realistisch müssen wir bei genauerem Hinschauen allerdings feststellen, dass der menschliche Kleingeist der Welt schlicht nicht gewachsen ist. Die Natur käme beispielsweise nicht darauf, auf jedem einzelnen Feld und jeder Wiese ordentlich sortiert immer dieselben Pflanzen, Früchte oder Gemüse wachsen zu lassen. Sie bietet vielmehr Wildwuchs und kreatives Chaos.

Vielleicht findet sich darin auch irgendwie eine geheime Ordnung. Wahrscheinlicher ist das Gegenteil: Die zufällige Kombination des Verschiedenen ist die Kraft der Blüte und der Evolution.

Es ist der Mensch, der schlechte Ergebnisse erzielt, wenn er immer dieselben Getreide oder Gemüse auf demselben Feld anpflanzt. Diese „Ordnung“ laugt den Boden aus, fördert Pilzbefall und lässt die Erträge sinken. Fruchtfolgen sind notwendig, um der Natur ihren Spielraum zu lassen. In der Landwirtschaft wie auch im Denken.

Vibratoren liegen neben Gartenscheren


Es ist spannend zu beobachten, wie nun Künstliche Intelligenz die menschliche Intelligenz in ihrem Verständnis von Ordnung herausfordert. Wer glaubt, in einem der fußballfeldgroßen Amazon-Warenlager seien Produkte nach Kategorien geordnet und gelagert, der irrt.

Dort liegen iPad-Hüllen neben Gesichtscremes, Vibratoren neben Gartenscheren. Jedes Produkt wird mit einem Barcode versehen und lässt sich damit tracken, egal, wo es sich gerade befindet. Produkte werden dort gelagert, wo gerade Platz ist.

Der Einzige, der in diesem Chaos noch den Durchblick hat, ist der Algorithmus. Der US-Journalist Brad Stone hat das System, genannt „Mechanical Sensei“, 2013 in seinem Bestseller „Der Allesverkäufer“ beschrieben. „Sensei“ kommt übrigens aus dem Japanischen und bedeutet „der früher Geborene“ oder „der Lehrer“. Und dieser mechanische Lehrer zeigt uns Menschen, wie man durch Unordnung Effizienz steigern kann.

Lagerten alle Produkte einer Kategorie an derselben Stelle, die Arbeiterinnen und Arbeiter müssten viel längere Wege zurücklegen, um einzelne Bestellungen auf den Weg zu bringen. Das kostet Zeit und Geld.

Über das Softwaresystem lässt sich die optimale Route errechnen, mit dem jedes Produkt in welcher Reihenfolge eingesammelt, verpackt und auf den Weg gebracht wird. Der mechanische Lehrer ist also die unsichtbare Hand, die jeden Lieferprozess strukturiert, und zwar vollständig anders, als eine menschliche Ordnung dies tun würde.

Disruption menschlicher Ordnung


Das ist nur ein Beispiel für die Disruption menschlicher Ordnung durch digitale Technologien und Künstliche Intelligenz. Der US-Technologiephilosoph David Weinberger hat diese Entwicklung schon 2007 in einem bemerkenswerten Buch über „Das Ende der Schublade: die Macht der neuen digitalen Unordnung“ analysiert.

Seine zentrale These: Bislang waren unsere Möglichkeiten, Ordnung in die Dinge zu bringen, durch die Gesetzmäßigkeiten der physischen Welt beschränkt. Digitale Technologien geben uns immer neue Möglichkeiten des Sortierens an die Hand und erlauben uns, alles immer zu finden.

Das klappt im Internet beispielsweise durch Tags für Websites und Hashtags auf Twitter. Aber es funktioniert auch im Umgang mit der physischen Welt, wie das Beispiel Amazon zeigt. Der Algorithmus ersetzt die ineffiziente Ordnung des Menschen durch die effiziente Unordnung der ubiquitären digitalen Nachverfolgung von einfach allem.

Die Schublade hat also ausgedient. Sie kann maximal noch Ablageort für die Ordnungsrelikte nostalgischer Geister sein. Gerade in Deutschland allerdings ist die Liebe groß für eine Ordnung, die Gleiches zu Gleichem gesellt. Ein bisschen mehr Chaos könnten wir durchaus gebrauchen.

Miriam Meckel

Miriam Meckel ist Mitgründerin und Geschäftsführerin von ada und Professorin für Kommunikationsmanagement an der Universität St. Gallen, Schweiz. In dieser Kolumne schreibt sie alle zwei Wochen über Ideen, Innovationen und Interpretationen, die Fortschritt bringen und unser Leben verbessern. Denn was die Raupe das Ende der Welt nennt, nennt der Rest der Welt einen Schmetterling.

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