Medikamente zum Abnehmen versprechen Milliarden-Umsätze. Die Abhängigkeit von süchtig machenden Lebensmitteln wird so nur durch die Abhängigkeit von einem Medikament ersetzt.
Endlich ist diese Fastenzeit vorbei. Irgendjemand aus der Familie oder dem Freundeskreis isst immer gerade keine Schokolade, kein Fleisch (mehr) oder trinkt keinen Alkohol. Und dann dieser soziale Druck, der daraus entsteht. Sollte ich nicht auch gesünder, sportlicher, schlanker leben? Nach Ostern und der meist unabdinglichen Völlerei über die Feiertage kommen einige Wochen, in denen man der protestantischen Entsagung entsagen kann. Gott sei Dank? Ja, irgendwie schon.
Aber mal ehrlich: Bei uns ist die Balance zwischen Völlerei und Verzicht, Sucht und Selbstbestimmung sogar noch ganz gut intakt. Die USA zeigen, wie es anders laufen kann. Ein kurzer Fußweg durch Las Vegas offeriert mögliche Varianten des wahren Exzesses. Schräg gegenüber dem Hotelcasino „Bellagio“ bietet ein riesiger Laden eine für mich bislang unvorstellbare Vielfalt von Süßigkeiten, ergo: Zuckerprodukten, an. Über dem Eingang prangt in großer Schrift: „Zucker: Du weißt, du willst mich!“
Diese Überreizung zeigt sich nicht nur in der US-Lebensmittelbranche von ihrer üppigen Seite. Alles ist dort im Übermaß verfügbar. Waschanlagen bieten einen Sondertarif für die „grenzenlose Autowäsche“, Friseursalons einen Sonderpreis für den „grenzenlosen Haarschnitt“. Ich frage mich, ob sich ein Waschzwang auch auf das Auto übertragen lässt, sodass man es grenzenlos waschen lassen muss. Und wie lange kann man sich die Haare schneiden lassen, bis man schlicht keine mehr auf dem Kopf hat? Das alles macht im Einzelfall keinen Sinn, wohl aber als systemische Ausprägung eines Wirtschaftsmodells, in dem das bekannte „mehr ist mehr“ in den Overdrive gebracht wird: der Suchtkapitalismus.
Die US-Ernährungsindustrie ist dafür ein Paradebeispiel. Sie produziert im Wesentlichen industriell hochverarbeitete Lebensmittel. Das ist gut für den Gewinn der Unternehmen, nicht aber für die Gesundheit der Menschen.
Wer in einem US-Supermarkt unverarbeitetes (in Deutschland: frisch gebackenes) Brot sucht, der sucht lange. Brot in den USA ist fast immer industriell verarbeitet, also mit Konservierungsstoffen, Farbstoffen, Emulgatoren angereichert. Es liegt in Plastik verpackt im Regal und dann zu Hause und so kann man es auch wochenlang liegen lassen, ohne auch nur die geringste Veränderung zu bemerken. Während man eine Scheibe frisch gebackenes Vollkornbrot ordentlich kauen muss und sich dann ein Sättigungsgefühl einstellt, sorgen Emulgatoren dafür, dass sich das Brot einfach im Mund auflöst. Das führt zum Wunsch nach mehr – unterstützt durch Zusatzstoffe im Industriebrot. Man isst fünf Scheiben statt eine.
Derzeit leidet eine Milliarde Menschen weltweit an Fettleibigkeit. Nach Vorhersagen der „World Obesity Foundation“ könnte 2030 die Hälfte der Weltbevölkerung als stark übergewichtig gelten. Im Wesentlichen trifft diese Entwicklung ärmere und sozial schlechter gestellte gesellschaftliche Gruppen. Das ist eine traurige Prognose, die vielfache individuelle Folgen, aber auch ökonomische Konsequenzen hat: höhere Sterblichkeitsraten, wachsende soziale Spaltung, steigende Kosten für das Gesundheitssystem. Den Suchtkapitalismus interessiert das nicht, er unterliegt anderen, kurzfristigen Mechanismen und setzt auf Technologie. Sie soll die Folgen abmildern, aber bitte nach den Gesetzen des Suchtkapitalismus.
Ein Ansatz sind neu entwickelte Medikamente wie Ozempic und Wegovy. Um das gleich klarzustellen: Solche Medikamente können für kranke Menschen ein Segen sein. Für Gesunde werden sie zum Problem. Die eigentlichen Diabetesmedikamente erleben in den USA derzeit einen Triumphzug in den sozialen Medien, vor allem auf Tiktok.
Milliardenmarkt: Neue Medikamente zum Abnehmen
Dort werden die unter die Haut zu spritzenden Mittel als Abnehmwunder beworben. Denn sie regulieren die Hungerhormone und täuschen dem Gehirn vor, satt zu sein. Allerdings nicht nur für übergewichtige Menschen. Hollywoodstars und andere „Influencer“ brüsten sich damit, per Spritze für etwa 1400 Dollar pro Monat noch die letzten paar Gramm unsichtbaren Fetts auf den Rippen loswerden zu können.
Die Abhängigkeit von süchtig machenden Lebensmitteln wird also durch die Abhängigkeit von einem Medikament ersetzt. Und die Exzesse des Suchtkapitalismus gelten im Zu- ebenso wie im Abnehmen: Mehr ist mehr.
In seinem Buch „The Hungry Brain“ beschreibt der Biochemiker und Neurowissenschaftler Stephan J. Guyenet, was schiefläuft. Viele Menschen leben inzwischen in einem dauerhaften Ungleichgewicht zwischen der Neurochemie ihrer Gehirne, ihren genetischen Dispositionen und ihrer Umwelt. Unsere Gehirne haben sich einst in einer Welt entwickelt, in der Nahrungsmangel herrschte und die Suche nach Essen schwierig und anstrengend war. In konstantem Überfluss werden die einst sinnvollen Signale in ihr Gegenteil verkehrt. Wir werden zu zivilisationsgestörten Abhängigen. „Zucker: Du weißt, du willst mich“ – immer und überall.
Was für eine gestörte Welt, in der eigentlich gesunde Menschen durch zu viel und falsches Essen krank werden, um dann die Folgen mit Medikamenten zu bekämpfen. Pfizer-CEO Albert Bourla sagte Anfang des Jahres, dass die neuen Abnehmwunderdrogen einen Markt von 90 Milliarden US-Dollar erschließen könnten. Das ist der Markt, auf dem der Suchtkapitalismus weiter blühen kann.
Wir haben von ihm in unseren Osterkörbchen sicher nur einen Schatten erblickt.