Immer mehr Unternehmen überlassen Werbung und Kundenservice KI-gesteuerten Avataren. Sie können unendlich viele Jobs gleichzeitig übernehmen, sprechen jede Sprache und sagen, was man ihnen vorschreibt. Doch noch können sie uns nicht ersetzen.
Fünf Jahre lang haben die Fans von Taryn Southern kaum etwas von ihr gehört. Dann, plötzlich, an einem Dienstag im Februar, meldet sich die Sängerin, Schauspielerin und Regisseurin zurück – mit einem Video auf Youtube. „Hi Leute, ich fühle mich wie eine ganz andere Person!", begrüßt sie ihre 435.000 Abonnent:innen. „Das Ironische daran ist: Ich bin gar keine Person, sondern eine Kreation künstlicher Intelligenz."
In ihrem neuen Youtube-Format spielt die echte Taryn Southern nur eine Nebenrolle. Präsentiert wird der Kanal ab jetzt von „Al Taryn", Southerns Avatar-Klon. Dabei hatte die 35-jährige Influencerin aus Los Angeles jahrelang ihr Leben online mit Millionen Fans geteilt. Doch eines Tages wurde ihr der Druck zu groß, erzählt sie im Video-Interview. „In den digitalen Medien gilt: Mehr ist mehr und die Leute sind nur so gut wie ihr letztes Video. Ich war ausgebrannt, es war ein nie endendes Hamsterrad."
Unterstützen soll sie von nun an deshalb ihr digitaler Zwilling. Die Influencerin hat sich für das Projekt mit dem israelischen Unternehmen Hour One zusammengetan, das Lizenzrechte an Gesichtern kauft und auf deren Grundlage KI-gesteuerte Avatare erstellt. Eigenen Angaben zufolge hat das Unternehmen bisher etwa 150 Avatare erstellt – seit Anfang des Jahres gehört auch Taryn Southern dazu.
„Ich bin älter und müder geworden, habe keine Lust mehr, mich jeden Tag zu schminken und vor die Kamera zu stellen”, begründet sie ihre Entscheidung. Das neue Format biete ihr außerdem die Möglichkeit, mit einer neuen Technologie zu experimentieren – eines von Southerns Kernthemen, um das sich auch ihr neues Format drehen wird.
Taryn Southern ist nicht die einzige, die sich online von einem Avatar vertreten lässt. Immer mehr Unternehmen überlassen Kundenservice und Marketing mithilfe von KI generierten synthetischen Figuren. Die Pandemie hat diesen Trend beschleunigt: Videos mit Schauspieler:innen vor Ort zu produzieren wurde im vergangenen Jahr zur Herausforderung – Unternehmen wie Hour One kam die Entwicklung zugute.
Zu den über 40 Kunden des Unternehmens gehören Firmen aus dem Immobilien-, E-Commerce- und Gesundheitsbereich. Einer der größten Nutzer von Hour One ist die internationale Sprachschule Berlitz, die von Lehrer:innen geleitete Videos für Dutzende Sprachen anbietet. Das Unternehmen hat seine Lehrkapazitäten mithilfe der Plattform stark ausgeweitet. In diesem Fall besonders hilfreich: Avatare können jede beliebige Sprache sprechen.
Hour One bietet einen ganzen Pool von sogenannten virtuellen „Charakteren" an. Unternehmen wie Berlitz wählen ein Gesicht aus, laden ihren Text in die Cloud und erhalten innerhalb weniger Minuten ein fertiges Video. Sprache, Lippenbewegungen, Mimik und Gestik generieren KI-Algorithmen. Unternehmen kostet ein Video laut Hour One abhängig von Größe und Umfang nur wenige Dollar – Kosten für Schauspieler:innen und Produktionsteam können sie sich sparen.
Einige Firmenkunden wollen stattdessen eigene Avatare erstellen. Laut Hour One handelt es sich dabei häufig um Geschäftsführer:innen, die wöchentlich ihre Kund:innen erreichen wollen. „Sie geben einen Text ein und das Video wird automatisch versendet. Jede:r Kund:in hat das Gefühl, eine persönliche Nachricht erhalten zu haben”, erklärt Amir Konigsberg, Founding Director von Hour One.
Avatare sollen Querschnitt der Gesellschaft repräsentieren
Das Unternehmen ist nicht das einzige, das Deepfake-Technologie einsetzt, um echte Aufnahmen mit KI-generierten Videos zu vermischen. Bei der Konkurrenz handelt es sich jedoch häufig um Agenturen, die sich auf die Zusammenarbeit mit Models oder Schauspieler:innen spezialisiert haben.
So tritt derzeit beispielsweise eine KI-Version von Hollywood-Star Bruce Willis in einem russischen Werbefilm auf. Der Schauspieler hat sein Gesicht für den russischen Mobilfunkanbieter Megafone lizenziert. Der Deepfake wurde mit Daten aus Bruce-Willis-Filmen trainiert. Für die Produktion soll der reale Willis zwei Millionen Dollar bekommen haben – ohne jemals am Set gewesen zu sein. Und als der kanadische Sänger „The Weeknd” im vergangenen Jahr seine Tour aufgrund der Corona-Pandemie absagen musste, lud er seine Fans stattdessen zu einem Tiktok-Livestream ein, bei dem sein digitaler Avatar mehrere Songs performte.
Bei Hour One hingegen muss man kein Star sein, um ein virtueller Charakter zu werden. Auf der Webseite kann man sich mit Namen und Link zum Instagram Profil bewerben. „Unsere Charaktere sollen die Gesellschaft als Ganzes in Bezug auf Ethnien, Demografie und Alter repräsentieren”, erklärt Konigsberg von Hour One. Besondere Fähigkeiten brauche es keine. Entscheidend sei jedoch, dass die KI das Gesicht gut erfassen kann.
Jedes Mal, wenn ein Unternehmen einen Charakter für ein Video auswählt, bekommt der oder die Gesichtsgebende eine Tantiemenzahlung. Wie viel man verdient, hängt laut Konigsberg davon ab, wie häufig das Video aufgerufen wird. In einem früheren Interview räumte die Firma aber ein, dass man davon bisher nicht leben könne. Auch für die Produktion des Avatars werden die Charaktere bezahlt – laut Influencerin Southern handelt es sich dabei um einen kurzen Prozess: Hour One habe vor einem Greenscreen 20 Minuten Videomaterial von ihr aufgenommen, in dem sie spreche und singe. Anschließend lade die Firma das Material in die Cloud.
Wer reguliert die Technologie?
Unternehmen, die ihr Marketing oder ihren Kundendienst mit geringen finanziellen Mitteln und in kurzer Zeit ausbauen müssen, profitieren von solchen Angeboten. Ebenso die 150 Charaktere, die mit Hour One ein passives Einkommen generieren und ihre Arbeitsbelastung dadurch verringern können. Doch die Entwicklung wirft auch ethische Fragen auf: Wie kann sichergestellt werden, dass die Technologie nicht missbraucht wird? Wer reguliert sie? Und wie können wir uns online noch darauf verlassen, was echt ist und was nicht?
Die kurze Antwort lautet: Gar nicht. Doch das ist keine neue Erkenntnis. Bereits jetzt sei längst nicht alles echt, was wir in der Werbung oder in den sozialen Medien sehen, argumentiert Thomas Beschorner, Professor für Wirtschaftsethik an der Universität St. Gallen. Er fordert bereits seit Jahren ein formales Genehmigungsverfahren für neue Technologien. „Wenn ein Zuschauer mit einem Avatar interagiert, sollte in jedem Fall gekennzeichnet sein, dass es sich nicht um eine reale Person handelt”, meint er.
Im ada-Podcast beleuchten Léa Steinacker und Miriam Meckel, wie Deepfake-Technologien unsere Wahrnehmung der Realität verändern.
Bei Hour One enthält jedes Video eine Markierung, die den Zuschauer darauf hinweist, dass es sich um „verfremdetes Bildmaterial” handelt. Ein Mitspracherecht, wozu ihr digitales Ebenbild verwendet wird, haben die Hour-One-Charaktere jedoch nicht. Das Unternehmen schließt in seinen Ethik-Richtlinien lediglich „illegale, unethische, spaltende, religiöse, politische oder sexuelle” Inhalte aus.
Influencerin Southern bereitet hingegen ein anderer Aspekt Sorgen: „Warum sollte ein Unternehmen einen Menschen einstellen, wenn es die KI-Klonversion bekommen kann, die nicht schläft und nicht isst? Die alles tut, was man ihr sagt und noch dazu einen Bruchteil kostet?”, sagte sie vor einigen Monaten in einem Podcast. Insbesondere professionellen Sprecher:innen, Schauspieler:innen und Models bereiten Avatare ernstzunehmende Konkurrenz.
„Wir müssen uns Gedanken machen, was Arbeit eigentlich ist”
Bisher lassen sich die Avatare mithilfe von KI jedoch nur frontal generieren. Sie können also ausschließlich die Gesichtsmuskeln bewegen – die Gestik und die Bewegung des Oberkörpers lässt sich noch nicht erzeugen. Eine Herausforderung, der sich das Unternehmen stellen will: „Wir merken erst, dass wir beim Sprechen normalerweise den Oberkörper bewegen, wenn wir es nicht tun”, erklärt Konigsberg. Um die Avatare noch realer wirken zu lassen, soll die Software in Zukunft auch solche Bewegungen generieren können.
Dass Avatare uns in der Zukunft beruflich vollständig ersetzen, glaubt Wirtschaftsethiker Beschorner nicht. Dass wir mit den Jahren weniger arbeiten und mehr Aufgaben der Technologie überlassen, kann er sich jedoch gut vorstellen. „Wir müssen uns als Gesellschaft Gedanken darüber machen, was Arbeit eigentlich zukünftig ist”, sagt er.
Bei der Arbeit gehe es nicht nur darum, Geld zu verdienen. Sie trage auch dazu bei, wer wir sind. Vielleicht fänden wir unseren Sinn bis dahin in etwas anderem oder erkennen Arbeit jenseits der Erwerbsarbeit als das an, was es ist: Arbeit. Doch Technologie habe Grenzen: „Die Kontrollfunktion muss weiterhin bei den Menschen liegen. Außerdem gibt es eine menschliche Komponente, die ein Avatar nicht ersetzen kann.”