Immersion gilt als Wegbereiter fürs Metaversum, von dem Tech-Utopisten träumen. Was braucht es wirklich, damit wir eines Tages voll und ganz in eine übergeordnete, virtuelle Realität versinken können?
Virtual-Reality-Technologien gelten seit Jahren als das nächste große Ding, dabei gab es sie bereits im 19. Jahrhundert. Oder zumindest ihre Vorläufer: In riesigen, kreisrunden Panoramagemälden konnten die Bewohner:innen europäischer Großstädte damals in Szenen einer Schlacht oder in virtuelle Landschaften eintauchen – sich einer immersiven Erfahrung alternativer Realität hingeben. In der Tech-Branche fällt der Begriff der Immersion zuletzt immer wieder – nämlich dann, wenn es um die Vision einer übergeordneten, virtuellen Realität geht – dem sogenannten Metaversum.
Seit fast zwei Jahrzehnten geistert die Utopie vom Metaverse durch die kühnen Tagträume der Tech-Industrie. Es sind Träume einer digitalen Zukunftsvision, die nahezu alle Ebenen unserer technologischen Gegenwart in einem allumfassenden Medium vereint: eine übergeordnete virtuelle Welt, in der wir künftig arbeiten, shoppen, spielen und uns mit unseren Freunden treffen sollen. Als Nachfolger des Internets, wie wir es heute kennen, ist das Metaverse letztlich ein digitales Schlaraffenland, in dem wir eines Tages einen Großteil unseres Lebens verbringen sollen.
Ein Trendbegriff
„Man kann sich das Metaversum als verkörpertes Internet vorstellen, in dem man Inhalte nicht nur ansieht, sondern in ihnen steckt“ sagte Mark Zuckerberg Ende Juli in einem viel zitierten Interview mit dem US-amerikanischen Tech-Portal The Verge. Der Unterschied zwischen dem gegenwärtigen Internet und dem Metaversum besteht also in der körperlichen Erfahrung – Nutzer:innen sollen eintauchen in die virtuelle Welt. Genau das beschreibt der Begriff Immersion im Bereich der erweiterten Realitäten. Gemeint ist ein Zustand, in dem Menschen in der virtuellen Umgebung versinken – mitunter sogar so sehr, dass die aktuelle, physische Realität dahinter zurücktritt.
Mit dem Aufkommen von Virtual Reality-Anwendungen hat sich „Immersion“ in den vergangenen Jahren zu einem Trendbegriff gemausert. Nicht umsonst werben Hersteller von VR-Brillen, wie Oculus und Vive, seit Jahren mit noch immersiveren Erfahrungen in der virtuellen Realität. Immersion wird in diesem Zusammenhang vor allem technisch verstanden: Die Technologie muss die Mechanismen der menschlichen Wahrnehmung möglichst detailgetreu kopieren, um die Illusion der virtuellen Realität besonders glaubhaft zu machen.
„Es geht um die Einbindung der Sinne”, sagt Sina Mostafawy, Professor für Computergrafik und -animation an der Hochschule Düsseldorf. Dabei sei man technisch schon ganz schön weit gekommen. Virtual Reality könne die Sinne heute nicht nur visuell und akustisch, sondern sogar olfaktorisch ansprechen. Besonders dreidimensionaler Ton und Bild helfen dabei, in die virtuelle Realität einzutauchen. Wenn es um haptisches Feedback geht, zum Beispiel die Textur oder Materialität von Gegenständen, sei die Forschung allerdings noch in den Kinderschuhen. „Je mehr Sinne man einbindet, desto besser”, sagt Mostafawy, der seit über 20 Jahren mit VR-Anwendungen arbeitet.
Immersive Vorläufer von VR
Alle Sinne anzusprechen, um einen illusionären Raum zu erzeugen, ist bei Weitem keine neue Idee. Seit jeher haben Menschen versucht solche immersiven Räume zu erschaffen. Ein bemerkenswertes Beispiel sind die Panoramen des 19. Jahrhunderts – riesige 360°-Rundgemälde, in deren Mitte sich die Betrachtenden umdrehen mussten, um alles sehen zu können. Die aufwendigen Anlagen waren damals große Attraktionen und sollten ein Massenpublikum anziehen – nicht zuletzt, um die hohen Kosten wieder reinzuholen.
Damit sich die Besucher:innen an das schummrige Licht der illusionären Bildwelt gewöhnen konnten, schleuste man sie durch einen abgedunkelten Gang in die Mitte der Anlagen. Von einem Podest, der sogenannten Rotunde, eröffnete sich um sie herum eine virtuelle Umgebung. Oft versuchten die Schöpfer:innen ihre kolossalen Abbilder von Landschafts- oder Schlachtszenen mit Hilfe von Requisiten und anderen plastischen Mitteln noch naturalistischer und damit immersiver zu gestalten. Der Kunsthistoriker Oliver Grau sieht in den Panoramen des 19. Jahrhunderts deshalb sogar die direkten Vorgänger heutiger VR-Technologien.
Ein begehbares, immersives Rundgemälde: das Mesdag-Panorama in Den Haag. Foto: Wikicommons
Wie detailgetreu eine Technologie jedoch die Realität abbildet, sagt nicht unbedingt etwas darüber aus, wie sehr wir uns in die jeweilige Situation einfühlen können. Schließlich können Menschen auch beim Betrachten von abstrakter Kunst äußerst subjektive und starke Emotionen empfinden. „Für mich ist die Abstraktion real, wahrscheinlich realer als die Natur. Ich würde noch weitergehen und sagen, dass die Abstraktion meinem Herzen näher ist“, sagte der Bauhaus-Lehrer und abstrakte Künstler Josef Albers 1966. In Gemälden, Gedichten oder Liedern können abstrakte Referenzen demnach sogar immersiver wirken als direkte Bezüge, weil sie höchst individuell mit Bedeutung aufgeladen werden können.
Eine anderes Verständnis von Immersion
Damit wir also stärker und tiefgehender in die virtuelle Realität eintauchen können, braucht es noch eine andere Dimension von Immersion: Eine qualitative Dimension der Präsenz, Intersubjektivität und Empathie.
Eine solche Dimension beschrieb Dan Moller, Creative Strategist und AR-Spezialist bei Facebook, im September auf dem hybriden Meta-Festival, wo führende Köpfe der Digitalbranche zusammenkamen, um über das technologische Potenzial rund um das Metaverse zu diskutieren. Dafür stellte Moller einen Vergleich mit dem Theater an: „Man spürt, dass man sich im Theater befindet, im selben Raum wie die Erzählung, aber auch, dass man diese Erfahrung mit anderen Menschen im Publikum teilt. Auch ist jede Aufführung ein bisschen anders und vielleicht wird man sogar auf die Bühne geholt.“ All das könne man im Metaverse nachbauen, so Moller. Mehr noch: Man könne jeden Abend auf die Bühne gezogen werden, gemeinsam mit engen Freunden, das Stück aus jedem erdenklichen Winkel genießen, zurückspulen oder alle vergangenen Stücke auf diese Weise erleben.
Überträgt man diese Überlegungen auf die vielschichtigen Anwendungsfälle, die ein künftiges Metaversum vereinen soll, wird schnell klar, wieso das Konzept vor dem Hintergrund einer alles verändernden Pandemie eine solche Faszination ausübt. Egal ob es um das Lernen, den Beruf, Unterhaltung oder Kultur geht – das Metaversum klingt deshalb so verlockend, weil es so viele verschiedene Ebenen unserer digitalen und physischen Gegenwart in einer multidimensionalen, immersiven Erfahrung vereint und dabei eine ganz neue Tiefe verspricht.
Angesichts der Beispiele, die derzeit immer genannt werden, wenn es um bereits existierende Welten geht, die einem möglichen Metaversum nahe kommen sollen, wirkt dieses Versprechen trotzdem etwas vollmundig. Spielwelten wie Fortnite oder Roblox, in denen mittlerweile auch virtuelle Konzerte stattfinden, erfüllen diese qualitativen Anforderungen an Immersion jedenfalls (noch) nicht. Und auch das von Facebook kürzlich vorgestellte, kollaborative Arbeitstool „Horizon Workrooms“ bleibt hinter der Großspurigkeit zurück, mit der das Metaverse als Ort für virtuelle Meetings angepriesen wird.
Sieht kaum nach kühner Tech-Utopie aus: „Horizon Workrooms“ heißt das neues kollaborative VR-Tool der Facebook-Tochter Oculus. (Foto: Youtube/Oculus)
Nicht zuletzt deshalb sollte man aufpassen, welche Erwartungen man an das Metaversum und virtuelle Realitäten stellt: „Es ist immer schwierig, wenn Technologie etwas ersetzen soll“, sagt dazu Sina Mostafawy. „Es wird eine weitere Farbe auf der Palette sein mit der man arbeitet und die immer besser werden wird. Aber ersetzt es damit die zwischenmenschliche Kommunikation? Nein.” Und genau da liegt das tatsächliche Potenzial des Metaverse: Es kann zwar kein Surrogat für physische Formen des Austauschs sein, aber es könnte Präsenz besser erfahrbar machen, in einem gemeinsamen Erlebnisraum zusammenführen und dadurch viel immersiver sein, als wir VR heute noch wahrnehmen.
Wenn die technische und qualitative Dimension von Immersion auf diese Weise wirklich eines Tages in einem übergeordneten Synthesemedium zusammenkommen kann, dann wird das Metaverse womöglich jene disruptive Sprengkraft entwickeln, die von den Tech-Utopisten gerade allenthalben besungen wird. Ein immersives Massenmedium, wie es die Panoramen des 19. Jahrhunderts waren – nur etwas größer gedacht.
Titelbild: Andrew Haimerl/Unsplash