Europa will aufrüsten. Am besten, wir denken den militärischen Schulterschluss an der Innovationsfront gleich mit. Denn Innovationen sind die Achillesverse von Autokraten.
Europa will militärisch aufrüsten, seit vergangener Woche ist nun auch bekannt, mit welchen Ambitionen. In dem von den europäischen Außen- und Verteidigungsministern angenommenen „Strategischen Kompass“ ist von einem „Quantensprung“ für Europa die Rede. „Die EU ist von Instabilität und Konflikten umgeben und mit Krieg an ihren Außengrenzen konfrontiert“, heißt es in dem Papier. Dieses „zunehmend feindliche Umfeld“ zwinge Europa zu einem Paradigmenwechsel.
Seit dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine fallen in Sachen Aufrüstung in Europa die Denkverbote. Viel ist in dem „Strategischen Kompass“ die Rede von höheren Verteidigungsausgaben und von Soldat:innen (eine schnelle Eingreiftruppe mit 5000 Einsatzkräften bis 2025). Europa sei bei dem Ansinnen „vereinter als je zuvor“. Was, wenn diese neue Einheit zwischen den 27 EU-Ländern auch dazu führen würde, EU-Militärausgaben nicht nur dazu zu konzipieren, Bestehendes zu verteidigen (und Angreifende zu zerstören), sondern auch Neues damit aufzubauen – als Quantensprung an Innovationen?
Es mag inmitten eines brutalen Krieges abwegig klingen: Aber es sind nicht zuletzt Innovationen, die die Freiheit und den Wohlstand des Westens in den vergangenen Jahrzehnten begründet und bewahrt haben. Und es wird die Strahlkraft von Innovationen bleiben, die unsere westliche Wertegemeinschaft auch in Zukunft für Menschen auf der ganzen Welt attraktiver machen können als die rückwärtsgewandten Narrative von Autokraten. Die mangelnde Innovationsfähigkeit Russlands unter Putin ist vielmehr seine Achillesverse – und die aller anderen Despoten gleich mit.
Europa braucht mehr als High-Tech-Waffen
Keine Organisation der Moderne hat schließlich mehr Innovationskraft entfaltet als der Forschungsarm des US-Verteidigungsministeriums DARPA. Vom Internet über die Computermaus zu GPS und Spracherkennung – viele Erfindungen aus DARPA-Projekten und DARPA-Laboren machen inzwischen die Grundlage aus für globale Milliarden-Geschäfte, haben Firmen wie Apple, Amazon und Microsoft ermöglicht. Heute sind diese die wertvollsten der Welt. In den so genannten „Challenges“ und Kooperations-Projekten der DARPA ist auch der Grundstein für das selbstfahrende Auto gelegt worden. Waymo, eine daraus hervorgegangene Google-Tochter, gilt heute auf dem Gebiet der Roboterautos als technologisch führend. Selbst Ingmar Hoerr, deutscher Erfinder der mRNA-Technologie, schwärmte in Interviews immer davon, wie unkompliziert Kooperation und Finanzierung durch DARPA-Projekte für sein junges Unternehmen CureVac einst entstanden – in Zeiten, in denen in Deutschland niemand das Scheckbuch für seine Zukunftswette auch nur öffnen wollte.
Wenn die EU also mit ihrem neuen Militärverständnis und neuen Milliarden-Budgets einen nachhaltigen Beitrag zur Stabilität des Westens leisten und die westliche Demokratie verteidigen möchte, dann braucht sie dafür nicht nur High-Tech-Waffen, sondern den Willen und ein Konzept für ein DARPA-ähnliches Konstrukt. Für einen Forschungsverbund, der sich nicht im Klein-Klein und ewigen Zerreden bisheriger europäischer Innovationsprojekte von Quaero bis Gaia X verheddert, sondern einen Quantensprung in der Innovationskraft der EU auslöst.
Denn Russland steht an dieser Front vergleichsweise wehrlos da. Das Land, das mit Sputnik einst das erste vom Menschen geschaffene Objekt ins Weltall schoss und mit Juri Gagarin den ersten Raumfahrer, hat an der Innovationsfront nichts Vergleichbares mehr zu bieten. Die Geschichte Russlands unter Putin ist vielmehr die Geschichte eines Innovations-Niedergangs – und das obwohl das Land schon immer über unglaubliche Talente in Naturwissenschaft und Technik verfügte. Aber hier gebiert die Kleptokratie Milliardäre, nicht der Erfinder- oder Unternehmergeist.
Abschottung verhindert Innovation
Russlands Ambitionen, etwa in Sankt Petersburg ein neues Silicon Valley auf die Beine zu stellen, sind längst ausgeträumt. Unternehmer:innen mit Taten- und freiem Ideendrang wanderten lieber gleich ins Original ab. Und seit Beginn des Angriffskrieges Russlands auf die Ukraine sind es vor allem Wissenschaftler:innen und Intellektuelle, die das Land verlassen. Allein im März waren darunter 50.000 IT-Fachkräfte. Das dürfte nur der Anfang sein, schätzt der russische Branchenverband RAEC.
Bleiben Putins Triumphe an der Cyber-Front. Seine Internet-Armee ist die unsichtbare Vorhut des Krieges, den wir in Europa brutal zu spüren bekommen. Sie befindet sich längst im dritten Weltkrieg mit dem Westen und führt im Cyber-Raum Putins mystischen Kriegskult aus. Die Frage deshalb ist: Wer wird langfristig das attraktivere Narrativ erzählen, um die besten Talente und die klügsten Köpfe an sich zu binden und so die stabilere Wertegemeinschaft zu bilden – die Ideen-Freiheit des Westens, die immer auch ein Zukunftsversprechen ist oder die Ein-Mann-Befehlsdiktatur, deren Zukunft die Vergangenheit ist?
Hinzu kommt: Putin steht an der Innovations-Front zunehmend alleine da, begibt sich in immer größere Abhängigkeit von China. Für mehr Innovationskraft wird die neu erstarkte „grenzenlose Freundschaft“ der beiden Staaten indes auch nicht sorgen. Jeder deutsche Autobauer weiß: China zieht gerne Knowhow ab, aber es teilt keines. Unter Präsident Xi Jinping schottet sich China ab. Chinesische Wissenschaftler:innen befürchten längst, die Phase der Innovation, die China im vergangenen Jahrzehnt erlebt hat und etwa Unternehmen wie den TikTok-Mutterkonzern ByteDance hervorgebracht hat, dürfte jäh zum Stillstand kommen. Xi lässt sogar allzu erfolgreiche Tech-Unternehmen zerschlagen und Unternehmer über Nacht von der Bildfläche verschwinden. Das mag als Abschreckung gedacht sein gegen den grenzenlosen und den Staat verachtenden Datenkapitalismus à la Google oder Meta. Anreize, Innovation und Neuerungen zu wagen, setzt das System XI für die Menschen in seinem Land so aber nicht mehr.
Auch China hat eine Schwachstelle, es ist die Chip-Produktion. Bis heute ist es dem Land trotz Milliarden-Investitionen nicht gelungen, auf dem Gebiet mit dem Westen gleichzuziehen. Innovation lässt sich nunmal schwer von oben diktieren. Wie die Heilung von Krebs vermutlich mithilfe der mRNA-Technologie gelingen dürfte und die Medizin auf eine neue Stufe hebt, so ist auch die nächste Generation von Tech-Innovationen ohne Powerchips nicht denkbar. Das sollte für die Mütter und Väter des militärischen „Strategischen Kompasses“ der EU doch Ansporn genug sein, Quantensprünge in der militärischen Zusammenarbeit auch an der Innovationsfront gleich mit auf die Spur zu setzen.