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  • 13.05.2021
  • Julia Macher

Eine schlaue Stadt für alle

Als erste Großstadt wollte sich Barcelona aus den Fängen der Big-Data-Giganten befreien und schuf ein ambitioniertes Regelwerk. Doch Datensouveränität und digitale Demokratie brauchen Zeit.

Als Barcelonas Bürgermeisterin Ada Colau die italienische Wirtschaftswissenschaftlerin Francesca Bria 2015 zur Chef-Strategin für Technologie und digitale Innovation ernannte, wollte sie nichts Geringeres als eine Revolution. Die Mittelmeermetropole sollte zu einer Art Utopia der digitalen Demokratie werden.

Dazu beauftragte Colau die als Vordenkerin des Digitalzeitalters gefeierte Bria, die Macht der internationalen IT-Unternehmen zu brechen und den Datenberg, den Barcelonas Bewohner:innen im Alltag anhäufen, aus den Armen der großen Datenkraken zu befreien. „Daten sind eine Ressource wie Wasser und Luft. Sie müssen fürs Gemeinwohl gemeinschaftlich verwaltet werden“, sagte Bria dann auch. „Holt euch eure Daten zurück!“

Der radikaldemokratische Ansatz brachte Bria und Barcelona jede Menge Aufmerksamkeit. Doch wie setzt man ihn um? Wie wird aus hehrer Theorie praktische Politik?

Francesca Bria hat der katalanischen Lokalpolitik bereits wieder den Rücken gekehrt, die Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlerin berät jetzt die Vereinten Nationen zu digitalen Städten. Ihre Roadmap für eine „Transition zur technologischen Souveränität“ aber ist weiter Grundlage für Barcelonas Digitalstrategie – und damit Gebrauchsanweisung für den bisher ambitioniertesten Versuch in einer politischen Gemeinschaft, einen ständigen Balanceakt des digitalen Zeitalters zu meistern: Wie lassen sich Daten für Fortschritt nutzen, ohne die Persönlichkeitsrechte Einzelner zu verletzen?

Aufträge nur gegen Daten


In Barcelona haben sie sich dazu einiges überlegt: Ein Großteil des städtischen Technologie-Budgets etwa muss in die Entwicklung freier Software fließen, öffentliche Ausschreibungen müssen zudem eine „Innovationsklausel“ enthalten. Sie soll gewährleisten, dass die Bürger:innen von der „Wissens- und Digitalökonomie“ profitieren. Die Klausel ist die wichtigste Voraussetzung für das Manöver „Rückeroberung der Daten“. Denn sie besagt: Wer einen Vertrag mit der Stadt Barcelona will, muss neben der gewünschten Dienstleistung auch Daten liefern.

2016 hat die Stadt den ersten Vertrag auf dieser Grundlage abgeschlossen: Der Telekommunikationsanbieter Vodafone erhielt den Zuschlag für Festnetz, Diensthandys und Datenverkehr der Verwaltung, verpflichtete sich im Gegenzug, ethische Standards bei den Arbeitsbedingungen einzuhalten – und der Stadt bei der Erhebung relevanter Daten zu helfen.

 „Uns interessiert vor allem der ‚Herzschlag‘ der Stadt“, erzählt Pau Balcells, Programm-Manager beim städtischen Datenbüro OMI: „Wir wollten wissen, wer wann in die Stadt kommt, um so den ÖPNV und Parkplätze für Pendler:innen besser planen zu können.“

Dazu hat der Telefonanbieter das Stadtgebiet in 500 mal 500 Meter große Quadrate unterteilt und misst alle vier Stunden, wie viele Smartphones sich dort einloggen und woher sie kommen. Über seine Marktquote errechnet Vodafone, wie viele Menschen sich in diesen Planquadraten vermutlich tatsächlich aufhalten und anonymisiert die Daten. Einmal im Monat erhält Balcells’ Behörde einen 1,5 Gigabyte schweren Datensatz: In den CSV-Dateien ist aufgelistet, wie viele Besucher:innen sich in den jeweiligen Planquadraten aufhalten, woher sie kommen, wohin sie reisen und zu welchem Geschlecht und zu welcher Altersgruppe sie gehören.

Balcells klickt durch die Visualisierungen, die sein Büro damit erstellt hat. Ein Pfeildiagramm zeigt, aus welchen Vororten die meisten Pendler:innen kommen. An einem anderen lässt sich ablesen, an welchen Sommertagen die meisten Bewohner:innen die Mittelmeermetropole verlassen. „Wir haben sechs Monate gebraucht, um Vodafone überhaupt vom Nutzen des Projekts zu überzeugen“, erzählt Balcells. Fast genauso lang tüftelte man an den Kriterien für die Auswertung und das Prozedere für die Anonymisierung.

In Francesca Brias idealer Welt hätten nicht Vodafone oder die Verwaltung entschieden, welche Daten erhoben werden, sondern die Bürger:innen. Die Firma hätte die Daten gar nicht anonymisieren müssen, die Nutzer:innen hätten ihre Identität selbst verschlüsselt. Aber so ist das eben auch, wenn die ideale Zukunftswelt der Wissenschaft auf die Altlasten einer bestehenden Gemeinschaft trifft.

Digitalstrategin Francesca Bria.

Mitbestimmung 4.0


Theoretisch ist es tatsächlich möglich, bei jedem Klick, jeder Interaktion in der digitalen Welt neu zu entscheiden, was das Gegenüber von einem erfährt und wie es diese Information nutzen darf. Francesca Bria hat dazu das EU-finanzierte Projekt DECODE (Decentralized Citzens Owned Data Ecosystem) vorangetrieben. Die Open-Source-basierte Infrastruktur kann Nutzer:innen eine komplette digitale Identität zuweisen, bei der persönliche Daten in Einzelteile zerlegt und über eine Blockchain-Technologie verschlüsselt werden. Die Daten sollen nicht auf den Servern der Verwaltung lagern, sondern dezentral im Netz und bleiben so immer im Besitz der Bürger:innen.

Für Francesca Bria wäre das nichts weniger als der „New Deal“ der Gegenwart: ein epochaler Wandel im Umgang mit unseren Daten. In Barcelona sind sie diesen Weg aber bisher nicht gegangen: zu aufwendig, technologisch zu unpassend zur vorhandenen Infrastruktur, den Bürger:innen nicht ohne Weiteres vermittelbar. So lautete die Einschätzung.

Pilotprojekte in Barcelona haben deswegen – wie übrigens auch in Amsterdam – eher konkrete Teilanwendungen ausprobiert. Während sich in den Niederlanden das Nachbarschaftsnetzwerk Gebiedonline mithilfe von DECODE eine Alternative zur Facebook-Authentifizierung seiner Nutzer:innen erarbeitete, konzentrierte man sich in Spanien auf das Thema partizipative Demokratie und implementierte ein DECODE-Modul auf der Plattform Decidim.

Über diese Plattform gestalten Barcelonas Bürger:innen seit 2016 Lokalpolitik mit: Während des ersten Mandats der linksalternativen Stadtregierung haben sich so mehr als 40.000 Menschen an der Ausarbeitung des Regierungsprogramms beteiligt. Sie diskutierten über Kinderspielplätze und Radwege, starteten eine Initiative für ein städtisches Beerdigungsinstitut und verfolgten in Echtzeit, was wie umgesetzt wurde. Auch die Projekte für den ersten – pandemiebedingt verzögerten – partizipativen Haushalt der Stadtgeschichte wurden auf Decidim gesammelt und ausgearbeitet.

Dank des Moduls können die Bewohner:innen der Stadt anonym über Vorschläge diskutieren. Theoretisch könnten sie mit verschlüsselter Identität auch Bürgerbegehren vorantreiben oder wählen, ohne sich mit Namen ausweisen zu müssen. Doch praktisch ist das unmöglich: Für solche Prozesse gibt es in Spanien wie in den meisten EU-Staaten keine Rechtsgrundlage. So bleibt das Projekt vorerst Spielwiese – und die Datensouveränität Utopie.

Léa Steinacker und Milena Merten sprechen im ada-Podcast über Smart Cities.

Mehr Konzerne geben Daten


Um Brias Vision zu verwirklichen, brauche es einen „grundlegenden Kulturwandel auf allen Ebenen“, sagt Arnau Monterde, Koordinator des Decidim-Projekts. „Immerhin wächst in der Bevölkerung ganz langsam das Bewusstsein für die Problematik.“ Gemeinsam mit dem Datenschutz-Kollektiv X-Net hat Decidim Ende vergangenen Jahres eine Suite mit Open-Source-basierten Applikationen für den Online-Unterricht entwickelt.

Mehrere Familien hatten sich beim Rathaus beschwert, dass die Schulen ihrer Kinder mit Programmen des Tech-Giganten Google arbeiteten, und sahen dadurch den Datenschutz gefährdet. Die alternative Suite soll ebenso intuitiv erlernbar sein wie das Google-Produkt, die Daten der Schüler:innen lagern aber nicht in einer Cloud, sondern auf den Servern der Schule. „Natürlich können wir nicht mit Google konkurrieren“, räumt Monterde ein. „Aber das Projekt ist immerhin ein Anfang.“

Dass Pilotprojekte nicht unbedingt sofort für Nachahmer sorgen, weiß man in Barcelona. Gut drei Jahre nach der Präsentation des Digitalplans bleibt Vodafone der einzige Dienstleister, mit dem ein Vertrag über die „Rückgabe von Daten“ besteht. An einer ähnlichen Klausel für einen Vertrag mit einem Recycling-Unternehmen wird derzeit gearbeitet; die Verwaltung will an Informationen über die Art und Menge des täglich abgeholten Mülls kommen.

Auch mit verschiedenen Banken laufen Gespräche: Um auszuwerten, ob und inwiefern der Einzelhandel von verkehrsberuhigten Straßen profitiert, hätte die Stadt gern Zugriff auf die Daten aus den Bezahlterminals der anliegenden Geschäfte. Doch bisher tröpfeln die Big-Data-Quellen eher, als dass sie sprudeln.

Pau Balcells stört das nicht. „Es hätte nichts gebracht, einfach massenweise Daten zu horten, wenn wir nicht wissen, was wir damit anfangen wollen“, sagt der Programm-Manager. Die Ressourcen einer Verwaltung seien nun einmal begrenzt, die Entscheidungsprozesse immer langsamer als die von privaten Unternehmen. Barcelonas digitale Revolution findet im Tippelschritt statt. „Aber auch viele kleine Schritte bringen uns voran“, glaubt Balcells.

Titelbild: Getty Images

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