Technologie ermöglicht Wissenschaft und Unternehmen, die Natur neu zu verstehen – und für den Menschen zu nutzen. Quantencomputer könnten diese Entwicklung noch einmal beschleunigen.
Wenn es um die Biologie von Übermorgen geht, ist wenig Platz für Bescheidenheit: „Das ultimative Ziel ist es, die Programme des Lebens zu verstehen“, sagt Caroline Uhler. Die Schweizer Statistikerin leitet eine frisch gegründete Abteilung des Broad-Institutes, einer gemeinsamen Forschungseinrichtung der renommierten US-Unis Harvard und MIT. Die Ziele: Neue Wege der DNA-Sequenzierung zu finden, Proteine schneller und effizienter zu katalogisieren – und so neue Antworten rund um die Biologie des Menschen zu finden, etwa im Kampf gegen Krebs.
Eine Revolution reicht dabei nicht, um sich dieser Mammutaufgabe anzunehmen. Das „Eric- and Wendy-Schmidt-Center“ in Cambridge, angeschoben durch eine 150-Millionen-Dollar-Spende des langjährigen Google-Chefs und seiner Ehefrau, setzt an der Schnittstelle von zwei Entwicklungen an: Den massiven Fortschritten in der Biologie, beispielsweise in der Gentechnik, auf der einen Seite. Und auf der anderen Seite dem zunehmenden Tempo der IT, wenn es darum geht, Informationen zu verarbeiten und zusammenzuführen. Biowissenschaften treffen auf Datenwissenschaften, heißt es in der Ankündigung des Centers.
Gentechnik-Gießereien mit großen Visionen
Das Potenzial ist gewaltig: „Wenn man beides zusammenbringt, gibt es einen ganz anderen Nährboden für Innovation“, sagt Jan-Frederik Jerratsch. Der promovierte Physiker arbeitet seit zehn Jahren für die Beratungsgesellschaft BCG, aktuell ist er Partner im Berliner Büro. In einer ausführlichen Studie haben die Berater:innen zum Jahresbeginn das Potenzial von sogenannten „Deeptechs“ untersucht – und führen gleich eine ganze Reihe an vielversprechenden Unternehmungen auf: Ginkgo Bioworks, ausgegründet aus dem MIT, tritt mit dem Anspruch an, Zellen zu programmieren – und nutzt Methoden aus der Softwareentwicklung, um die Entwicklungsprozesse zu beschleunigen.
Zymergen aus Kalifornien testet automatisiert Mikroben auf ihren Einsatzzweck und will so neue Materialien für Elektrogeräte genauso vermarkten wie natürliche Abwehrstoffe gegen Insekten. Und Cellino Biotech aus Cambridge will Lasertechnik nutzen, um Zellen so individuell auf Patienten zurechtzuschneiden, dass sie gegen aggressive Krankheiten helfen können.
In englischer Sprache bezeichnen sich diese Unternehmen als „Biofoundry“, frei übersetzt als Gentechnik-Gießereibetriebe. Sie nutzen IT, um manuelle Laborarbeit durch digitale Fließbandarbeit zu ersetzen. In Deutschland hat das Max-Planck-Institut für terrestrische Biotechnologie in Marburg im vergangenen Jahr eine solche „Biofoundry“ eingerichtet, die sich wiederholende Experimente beschleunigen soll. Die Berater:innen von BCG charakterisieren diese neuen Firmen als „integrierte Fabriken, die Gen-Konstruktionen entwickeln und dafür Künstliche Intelligenz nutzen und sie über Robotic-Process-Automation bauen und testen“.
Google-Tochter schafft Durchbruch bei Generationen-Problem
Viele dieser Bio-Tech-Zwitter sind dabei heute noch eine Wette auf die Zukunft: Mit markigen Sprüchen und großen Visionen werben gerade amerikanische Unternehmen immer wieder um das Kapital von Investor:innen. „Suchen Sie nach der genomischen Nadel im Heuhaufen?“ spricht etwa Zymergen auf seiner Homepage potenzielle Kund:innen an.
Doch immer wieder liefert die neu entstehende Branche auch ab. Für großes Aufsehen sorgte kürzlich die Google-Tochter Deepmind: Dank Künstlicher Intelligenz gelang es mit Software, eine relativ verlässliche Vorhersage über die sogenannte Proteinfaltung zu treffen. In diesem Vorgang werden viele Funktionen und Wirkweisen eines Proteins festgelegt. Mit einer genauen Prognose lässt sich früh feststellen, welche Chancen oder Gefahren das Eiweiß beispielsweise für den menschlichen Organismus birgt.
In der Theorie war diese Vorgehensweise bereits 1972 von Nobelpreisträger Christian B. Afinsen formuliert worden. Doch Generationen von Forscher:innen waren an einer zuverlässigen Vorhersage gescheitert. Dem speziell für diese Aufgabe entwickelten Programm AlphaFold gelang es nun, im Schnitt die Strukturen mit einer Genauigkeit von 92,7 auf einer 100-Punkte-Skala vorherzusagen.
Ein Durchbruch dank digitaler Hilfe. Auch wenn Forscher:innen davor warnen, die neuen Methoden zu hoch zu bewerten. „AlphaFold ist im Grunde, wie eine Person zu kennen, die innerhalb weniger Stunden eine Proteinstruktur experimentell bestimmen kann, uns aber nicht sagt, wie sie das macht“, formuliert es Professor Gunnar Schröder vom Institut für Biologische Informationsprozesse und Strukturbiochemie am Forschungszentrum Jülich in einer Stellungnahme.
Immer mehr Abkürzungen für die Forscher:innen
Aber: Eine experimentelle Bestimmung von Proteinstrukturen auf traditionellem Wege könne „unter Umständen Jahre dauern“, so Schröder. Das Beispiel der Proteinfaltung zeigt damit gut sowohl Chancen als auch Grenzen, die KI und Quantencomputing für die Biologie bedeuten: Die Technologie ermöglicht keine allgemeingültigen Antworten, aber relevante Abkürzungen. Wie zügig die Tech-Industrie dabei Fortschritte macht, zeigt das Beispiel AlphaFold gut: Auch 2018 stellte Deepmind bereits die erfolgreichste Software, um die Proteinfaltung vorherzusagen – damals erreichte sie jedoch nur knapp 60 von 100 Punkten.
Quantencomputer könnten in Zukunft dabei helfen, noch einmal eine neue Stufe zu erklimmen. Diese neue Generation an Rechnern verarbeitet statt Bits sogenannte Qubits, die deutlich mehr Informationen enthalten. Dadurch sollen Modellierungen, die heute noch zu komplex sind, möglich werden. Für die Pharma- oder Chemiebranche könnte das zum Beispiel relevant werden, wenn neue Impfstoffe entwickelt werden.
Molekulare Reaktionen im menschlichen Körper sind derart komplex, dass sie heutzutage nur schwer zu simulieren sind. Auch bei der Gestaltung von Katalysatoren oder Enzymen könnte die Zukunftstechnologie helfen. „Im Quantencomputing steckt das Potenzial, die prinzipiellen Beschränkungen klassischer Computer zu überwinden“, sagt Professor Christian Bauckhage, wissenschaftlicher Direktor des Fraunhofer-Forschungszentrums Maschinelles Lernen.
Spitzenforschung aus zwei Disziplinen muss verschmelzen
Jedoch: Die Technik entfaltet nur ihr volles Potenzial, wenn sich Biowissenschaftler:innen und IT-Expert:innen zusammentun: „Quantencomputer an sich sind kein Produkt, das jemanden glücklicher machen wird – für sich genommen sind es nicht viel mehr als eisgekühlte Black Boxes“, warnt BCG-Berater Jerratsch vor zu großen Erwartungen. „Aber sie haben das Potenzial, das mächtigste Werkzeug zu werden, um weitere Deep-Tech-Fortschritte zu erreichen und damit fundamentale Probleme unserer Gesellschaft zu adressieren.“
Die mit Abstand größte Herausforderung werde nicht die inhaltliche Kompetenz sein, ist Jerratsch überzeugt. „Es geht darum, die Strukturen und Zusammenhänge zu schaffen, um die Komplexität zu organisieren und produktiv zu machen.“ Eine Aufgabe wird es daher sein, die Welten immer weiter zusammenwachsen zu lassen. Ein Blick in die Unterstützerliste des „Eric- and Wendy-Schmidt-Centers“ zeigt beispielhaft, welch unterschiedliche Unternehmen zusammenkommen: Pharmafirmen wie AstraZeneca oder Novartis gehören ebenso dazu wie Google oder Microsoft.
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