Unbegrenzter Urlaub auf Vertrauensbasis – in einigen Unternehmen ist das kein Wunschtraum, sondern Realität. Liegt darin der Schlüssel zu mehr Freiheit, Zufriedenheit und Motivation?
Die Corona-Krise sorgt seit eineinhalb Jahren für anhaltenden Stress und Unsicherheit. Um der kollektiven Erschöpfung ihrer Mitarbeiter:innen vorzubeugen, haben einige Unternehmen der gesamten Belegschaft zusätzlichen Urlaub gewährt. So gaben beispielsweise die Karriereplattform LinkedIn und die Dating-App Bumble kürzlich allen Mitarbeiter:innen eine Woche frei.
Ein eigentlich uraltes Konzept – die „Betriebsferien“ – erlebt damit unter dem Schlagwort „Burnout Breaks” eine Renaissance. Doch Expert:innen zweifeln an der Nachhaltigkeit solcher Maßnahmen. Zurück am Arbeitsplatz erwischt viele Menschen die Welle der Realität, die sie zurück in alte Gewohnheiten reißt. Ihnen bleibt nur wenig Zeit, um Luft zu holen, bis sich die nächste Welle ankündigt. Dem anhaltenden Leistungsdruck vieler Unternehmenskulturen können einige früher oder später nicht mehr standhalten. Vor diesem Hintergrund klingt eine gemeinsame Woche Betriebsferien eher nach einer Zwangspause.
Wem die mentale Gesundheit seiner Mitarbeiter:innen wichtig ist, der sollte sich stattdessen mit dem Konzept des Vertrauensurlaubs auseinandersetzen.
Nie wieder Urlaubsanträge stellen
„Vertrauensurlaub“ meint die unbegrenzte Anzahl an bezahlten Urlaubstagen für jedes Teammitglied eines Unternehmens. Das Modell bedeutet, dass sich Angestellte so viel Urlaub nehmen dürfen, wie sie möchten. Gegenüber dem/r Arbeitgeber:in sind sie keinerlei Rechenschaft schuldig und die Anzahl der genommenen Urlaubstage wird nicht kontrolliert.
Das Konzept kommt vor allem aus den USA. Bei Netflix etwa gehört der Vertrauensurlaub schon lange zur Arbeitskultur. In Deutschland setzen zum Beispiel die Hirschen-Group aus Köln, die Düsseldorfer Reiseplattform Trivago oder der Berliner Kondomhersteller Einhorn auf dieses Konzept.
Philip Siefer, Gründer & „Chief Executive Unicorn” von Einhorn, hat in seinem Start-up bereits 2016 selbstbestimmte Gehälter und unbegrenzten Urlaub eingeführt. Er ist überzeugt: Je mehr Freiheiten man einführt und bemerkt, dass die Mitarbeiter:innen diese nicht ausnutzen – „dass sie nicht die ganze Zeit im Urlaub sind und ihr Gehalt auf acht Milliarden erhöhen”, wie er es formuliert – desto eher wisse man, „dass sie das, was sie tun, wirklich gerne tun.”
Beim Vertrauensurlaub gehe es um eine Unternehmenskultur auf Augenhöhe und darum, Vertrauen und Verantwortung im Miteinander aufzubauen. Haben Führungskräfte hingegen Angst vor der Selbstbestimmung ihrer Mitarbeiter:innen, sollte das „für jede Führungspersönlichkeit ein Alarmsignal sein“, so Siefer. Wenn zunehmende Freiheit mit Angst vor Dauer-Abwesenheit einhergeht, dann bedeute das, „dass die Mitarbeitenden nicht da sein wollen, wo sie sind und das heißt, irgendwas läuft schlecht.“
Unternehmen wie Einhorn lassen ihren Mitarbeiter:innen viel Raum und übertragen ihnen eine hohe Selbstverantwortung. „Wenn du keine Lust hast, zur Arbeit zu kommen, dann musst du nicht kommen“, sagt Siefer. Schließlich gebe es Situationen, in denen man keine Lust hat, zu arbeiten – „nicht, weil man nicht motiviert ist“ –, er spricht vielmehr von Umständen, die verbreiteter nicht sein könnten: die kranke Großmutter, ein kranker Hund, Beziehungsstress oder PMS. Das alles seien legitime Gründe, nicht arbeiten zu können. Außerdem befänden wir uns nicht mehr im Zeitalter der Hochindustrieproduktion: „Es geht nicht darum, ob du drei, acht oder 16 Stunden arbeitest, sondern es geht darum, etwas Bestimmtes zu erdenken.“
Dabei haben Arbeitgebende das Vertrauen in die Mitarbeitenden, dass sie selbst in der Lage sind, sich untereinander so zu organisieren, dass kein Chaos ausbricht – und niemand dieses Vertrauen ausnutzt. Alle profitieren davon, wenn das Team ausgeruht ist. Das erhöht das Engagement und die Motivation und kommt letztlich dem ganzen Unternehmen zugute.
Grenzenlose Freiheit oder Selbstbetrug?
Der Haken: Wer fünf Tage die Woche arbeitet, hat einen Mindestanspruch von 20 Urlaubstagen im Kalenderjahr. Vertrauensurlaub kann auch dazu führen, dass einzelne Arbeitnehmer:innen weniger als ihren gesetzlichen Mindesturlaub einreichen. Dies stünde im Gegensatz zur ursprünglichen Idee dieses Konzeptes.
Wie kann das vermieden werden? Mit solchen Fragen beschäftigt sich Christine Syrek. Sie ist Professorin für Wirtschaftspsychologie an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg und forscht unter anderem zu Erholung, Arbeitsstress und mentaler Gesundheit. 2020 führte sie gemeinsam mit einem internationalen, im Finanzsektor tätigen Unternehmen in den Niederlanden eine Studie zum Thema „Unbegrenzter Urlaub" durch.
Während der Untersuchung setzte sie sich vor allem mit der Frage auseinander, ob Vertrauensurlaub die Beschäftigten glücklicher macht. „Das war die Hauptvariable, die wir uns angeguckt haben“, so die Professorin. Ein Jahr lang hatten die 300 Beschäftigten der Pilotgruppe Zugang zu unbegrenztem Urlaub, für die Angestellten der Kontrollgruppe galten hingegen die regulären Urlaubsregelungen. Die Forscher:innen begleiteten beide Gruppen ein Jahr lang mit monatlichen Befragungen.
Die Experimentalgruppe erhoffte sich vom unbegrenzten Urlaub mehr Autonomie und Handlungsspielraum – und wurde nicht enttäuscht. Die Forscher:innen stellten fest, dass sich die Beschäftigten im Vergleich zu früher eher mal zwei, drei Tage frei genommen haben, um ihrer Gesundheit präventiv etwas Gutes zu tun. „Ein hervorragendes Ergebnis“, findet Syrek. Damit reduziere sich der Präsentismus und langfristig die Krankheitsrate. Der Vertrauensurlaub habe vor allem zur Reflexion darüber geführt, was Erholung eigentlich bedeutet und wie wichtig oder unwichtig es ist, anwesend zu sein. „Es hat dazu angeregt, darüber innerhalb der Teams nachzudenken und zu diskutieren.”
Gleichzeitig warnt sie: Es sei ganz wichtig, dass das Unternehmen hinter dem Konzept des Vertrauensurlaubs stehe und dies transparent kommuniziere. Ansonsten drohe die Gefahr, dass Mitarbeiter:innen mit wenigen oder gar keinen Urlaubstagen prahlen. So entwickle sich das Modell zu „einer Art Statussymbol“ – und verfehle seine Wirkung. Um dies zu vermeiden, rät Christine Syrek unbedingt dazu, ein zusätzliches Minimum an Urlaubstagen, die man sich nehmen muss, mit einzuführen.
Keine Freiheit ohne Regeln
Unbegrenzte Urlaubstage bräuchten in der Umsetzung vor allem eine offene und ehrliche Kommunikation sowie uneingeschränkte Teamarbeit. Wenn man eine Weile mit dem System gearbeitet hat, sollte gemeinsam im Team mit der Führungskraft ein Grundgerüst an Regeln entworfen werden. Etwa, damit es mit Blick auf die unterschiedliche Urlaubsverteilung gerecht zugehe. Bei den Führungskräften im Experiment sei außerdem die Unsicherheit sehr groß gewesen. Syrek empfiehlt hier, sich Training und Unterstützung und nicht zuletzt den Austausch mit anderen Führungskräften zu suchen.
Vertrauensurlaub ermöglicht es Menschen, sich die Auszeit zu nehmen, die sie wirklich brauchen – und zwar genau dann, wenn sie sie brauchen. Die eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen, ohne Rechtfertigung und Erklärungsnot. Wer zur Enttabuisierung mentaler Gesundheit am Arbeitsplatz beitragen möchte und wem das Wohl seiner Mitarbeiter:innen am Herzen liegt, sollte das Modell zumindest einmal ausprobieren.
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