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  • 12.11.2021
  • Miriam Meckel

Ein Avatar braucht keinen Haarschnitt

Das Metaverse treibt wieder die Hoffnung auf einen besseren Kapitalismus. Ernsthaft? Es geht vor allem um Gewinnmaximierung der Hersteller von Produkten und Dienstleistungen.

Wenn es einen Bedarf gibt, finden Menschen Wege, ihn zu befriedigen. Wann immer der englische Dichter Charles Dickens Mitte des 19. Jahrhunderts in London eine Lesung gab, entstand flugs ein lebhafter Schwarzmarkt rund um die Tickets. Er war der literarische Held seiner Zeit, hochbegehrt. Also kauften Zwischenhändler die Karten für die Lesungen so schnell wie möglich auf, um sie dann für ein Vielfaches an seine Fans weiterzuverkaufen. Manchmal wurden dabei Preise erzielt, die das Monatseinkommen eines Arbeiters erreichen konnten.

Heute erledigen diese Aufgabe Bots, automatisierte Programme, die das Internet nach Angeboten durchsuchen und Käufe abwickeln können. Bots kaufen seltene Sneakermodelle ebenso konsequent auf wie begehrte Tickets für Broadway-Shows. Auch hier geht es den Bot-Betreibern darum, die Ware alsbald mit erheblichem Gewinn, Neudeutsch: Multiple, an die eigentlichen Kundinnen und Kunden weiterzuverkaufen.

Die kapitalistische Wirtschaftsordnung hatte immer ein paar Schlupflöcher, in denen die reine Lehre einer angemessenen Preisbildung aus dem Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage verschwinden konnte. Mit diesem automatisierten Zwischenhandel werden Werte möglichst effizient abgegriffen, es werden aber keine geschaffen. Der digitale Kapitalismus, einst gepriesen als Reformmodell für den betagten Kapitalismus der materiellen Zeit, automatisiert alles, was wir immer schon kannten – nur in absurdem Tempo und in vielfacher Größenordnung.

Auftritt: das Metaverse. In ihm schlummert der nächste Erwartungsschub der neusozialistischen Technoevangelisten. In diesem Transzendentalraum für Techies soll nun wirklich alles möglich werden, sogar die Neuerfindung des Kapitalismus. Also das, was das Internet bislang trotz aller utopischen Hoffnungen der Anfangsjahre nicht geschafft hat. Die Metavision klingt so: Alle können endlich am Markt teilhaben. Individuelle Wünsche werden in dieser hybriden Konsumwelt in jeder noch so außergewöhnlichen Kategorie berücksichtigt. Distributionskräfte werden freigesetzt in einer Skalierung, die wir nie zuvor so zur Verfügung hatten. Also die vermeintlich größte Demokratisierungsplattform aller Zeiten, die auch den Kapitalismus neu aufladen wird.

Wer sich realitätsnäher mit diesen Prognosen auseinandersetzen möchte, kann einmal schauen, wer gerade die Diskussion um diesen neuen virtuellen Raum bestimmt. Am lautesten redet derzeit Facebook über das Metaverse und hat sich sogar gleich in „Meta“ umbenannt. Wenn ein Riese die Revolution für die Zwerge anführt, ist das immer ein bisschen verdächtig. Aber auch ganz praktisch lässt sich längst beobachten, wohin die ökonomische Reise im Virtuellen geht.

Technik ist weder gut noch böse, noch ist sie neutral


Im Metaverse kann man mit Kryptowährungen ganz real einkaufen und handeln. In der virtuellen Welt Decentraland wurden kürzlich gut 40.000 Quadratmeter virtuelles Land für mehr als eine halbe Million US-Dollar verkauft. Die Erwerber hoffen vermutlich darauf, dass das schöne Fleckchen irgendwann zur begehrten Traumdestination der durchreisenden Avatare wird. Die sollen dann auch gut aussehen, wenn sie im Hotspot vorbeischauen.

Bei verschiedenen Anbietern sind Paketlösungen zum Avatar-Tuning erhältlich. Die Firma „Avatar SDK“ bietet 6000 Avatare im Abo, denen man für schlappe 240 Dollar im Monat neue Klamotten und einen neuen Haarschnitt verpassen kann. Das ist sicher ein schönes Angebot für den spielerischen Umgang mit eigenen Identitäten. Aber es potenziert auch ein Problem des Kapitalismus, das sich schon in seinen bisherigen Varianten nicht in den Griff kriegen ließ: Es wird nicht mehr für einen realen Bedarf produziert, sondern vor allem für den maximalen Gewinn der Hersteller von Produkten und Dienstleistungen, die Bedarfe kreieren, wo es gar keine Bedürfnisse gab. Auch das ist ein Geschäftsmodell.

Technik ist weder gut noch böse, noch ist sie neutral. So hat einst der US-Historiker Melvin Kranzberg sein erstes Gesetz der Technikgeschichte formuliert. Was Kranzberg über Technologie sagt, stimmt noch heute. Erst in der Verwendung durch Menschen wird Technologie aufgeladen mit Werten und Bedeutung. Genau das trifft auch auf unser Wirtschaftssystem, den Kapitalismus, zu. Menschlich, ach, allzu menschlich ist, was den Kapitalismus treibt. So, wie Menschen das Metaverse gestalten, wird es ihnen dienen - oder eben nicht.

Charles Dickens schrieb übrigens einst: „Alle Betrüger der Welt sind nichts im Vergleich mit den Selbstbetrügern.“ Der Satz hat immer dieselbe Bedeutung, egal, ob man ihn für zwei, 20 oder 250 Dollar vorgelesen bekommt. Das Buch, aus dem er stammt, heißt „Große Erwartungen“.

Miriam Meckel

Miriam Meckel ist Mitgründerin und Geschäftsführerin von ada und Professorin für Kommunikationsmanagement an der Universität St. Gallen, Schweiz. In dieser Kolumne schreibt sie alle zwei Wochen über Ideen, Innovationen und Interpretationen, die Fortschritt bringen und unser Leben verbessern. Denn was die Raupe das Ende der Welt nennt, nennt der Rest der Welt einen Schmetterling.

Diese Kolumne erscheint sowohl beim Handelsblatt als auch bei uns. 

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