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  • 21.07.2021
  • Tim Leberecht

Du hast keine Zeit, diesen Text zu lesen

Im Berufsalltag wollen wir keine Zeit verlieren. Dabei ist ein rein linearer, auf Effizienz ausgerichteter Umgang mit der Zeit nicht mehr zeitgemäß. 

Die Managementwelt ist besessen von der Zeit. Wie man sie optimiert, wie man sie nutzt, wie man effizienter oder produktiver ist oder wie man das Beste aus einer endlichen Ressource herausholt. Jeder von uns hat nur eine begrenzte Zeit auf dieser Erde (und als Spezies geht sie uns aus), also sollten wir sie besser gut nutzen, und zwar pronto.

Kommen wir also schnell zur Sache.

Vier anstatt fünf Tage
Island führte vier Jahre lang ein landesweites Experiment durch, bei dem es darum ging, weniger Stunden zu arbeiten. Die BBC News bezeichnete es als „überwältigenden Erfolg", sowohl die Produktivität als auch die Zufriedenheit der Mitarbeiter:innen stieg an: „Die Arbeitnehmer:innen berichteten, dass sie sich weniger gestresst und Burnout-gefährdet fühlten und sagten, dass sich ihre Gesundheit und ihre Work-Life-Balance verbessert hätten." Wie Anne Helen Petersen in ihrem Newsletter Culture Study erklärt, sollten Produktivitätssteigerungen bei weniger Arbeitstagen nicht überraschend sein: „Man ist einfach ein:e bessere:r Arbeitnehmer:in – sicherer, kreativer, klüger und wacher – wenn man nicht erschöpft ist."

Obwohl es sich technisch gesehen nicht um eine Vier-Tage-Woche handelt, hat der isländische Versuch viele andere inspiriert – von Unilever in Neuseeland bis hin zur spanischen Regierung. Letztere plant nun 50 Millionen Euro an 200 Unternehmen zu verteilen, um freiwillig die Vier-Tage-Woche zu testen. Der Vorsitzende der linken Partei Más País, die das Experiment vorgeschlagen hatte, sagte, dass die Produktivität während der letzten 100 Jahre, in denen Arbeiter:innen sich das Recht auf einen Achtstundentag erkämpft haben, gestiegen ist. „Und dennoch hat der technologische Fortschritt und damit die Möglichkeit, mehr zu produzieren, nicht mehr Freizeit für die Menschen geschaffen."

Hast du genügend freie Zeit? David Allens Bestseller „Getting Things Done“ löste bei seinem Erscheinen im Jahr 2001 eine Bewegung unter Arbeitnehmer:innen aus, die davon besessen waren, ihre „persönliche Produktivität" zu steigern. Letztes Jahr bezeichnete Cal Newport die Popularität des Buches als Reaktion auf eine „tiefgreifende Veränderung" am Arbeitsplatz, die durch die E-Mail ausgelöst wurde. Wie sich jede:r, der in den frühen 2000er Jahren einen Computer hatte, vielleicht noch erinnern kann, war die E-Mail für eine nie dagewesene Flut von Aufgaben und Informationen verantwortlich und möglicherweise für das Ende der Freizeit, wie wir sie kannten.

Wir merken also, dass die reine Produktivitätssteigerung von Mitarbeiter:innen nicht ausreicht. Produkte wie Slack oder Trello-Boards sind keine Lösung für die Allmendeproblematik mit E-Mails, bei der jede:r Mitarbeiter:in die eigene Produktivität durch die Weitergabe eigener E-Mails an Kolleg:innen optimiert. Persönliche Produktivität ist der kleinste gemeinsame Nenner der Wissensökonomie. Sie hat unsere persönlichste Sphäre kolonisiert: unser Selbst.

Statt immer produktiver zu werden, sollten wir versuchen, weniger Zeit von anderen zu verschwenden.

Stell den Timer an
Fünf Minuten: Das ist die ideale Zeitspanne für Telefongespräche, die viel effektiver als E-Mails sind, wenn es um sensible oder komplizierte Themen geht. 

Zehn Minuten: Genug, um ein Mitarbeitendengespräch zu führen, so die Harvard Business Review.

Achtzehn Minuten: Es gibt einen Grund, warum TED-Talks nur 18 Minuten lang sind: „Indem man Redner:innen, die es gewohnt sind, 45 Minuten zu reden, dazu zwingt, ihre Präsentation auf 18 Minuten zu reduzieren, bringt man sie dazu, wirklich darüber nachzudenken, was sie sagen wollen", sagt TED-Kurator Chris Anderson. „Was ist der wichtigste Punkt, den sie vermitteln wollen? Das hat einen klärenden Effekt. Es bringt Disziplin."

(Wenn dein Meeting länger als 18 Minuten dauern muss, versuche, es auf 30 zu begrenzen. Je länger es dauert, desto eher haben deine Mitarbeiter:innen das Gefühl, dass Sie ihre Zeit verschwenden.)

Dreißig Minuten: Genug Zeit für eine Keynote. Laut Rednercoach Eleni Kelakos ist eine 30-minütige Rede lang genug, um substanziell zu sein, aber kurz genug, damit das Publikum nicht einschläft.

Eine Stunde: Reicht aus für ein 45-minütiges Workout und eine Dusche.

2 oder 3 Stunden: Ideal für eine Cocktailparty, die nach dem Abendessen beginnen und vor 22 Uhr enden sollte.

Zwei Jahre: Laut einer Studie des Bureau of Labor Statistics aus dem Jahr 2018 bleibt der/die durchschnittliche Angestellte etwa vier Jahre in einem Job. Aber die beste Zeit, um in einem Job zu bleiben, könnte kürzer sein: nur zwei Jahre, so der Executive Recruiter Dele Lowman. Indeed.com stimmt dem zu.

Titelbild: Unsplash

Tim Leberecht

Tim Leberecht ist ein weltweit tätiger Berater, Autor und Vordenker für einen neuen Humanismus vor dem Hintergrund von Digitalisierung, Automatisierung und Künstlicher Intelligenz. Er ist der Mitgründer und Co-CEO des House of Beautiful Business, einem internationalen Netzwerk an der Schnittstelle von Technologie, Management, Wissenschaft und Kunst. Jede Woche teilt er Einblicke und Geschichten, die dabei helfen, besser zu arbeiten, zu führen und zu leben.

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