Künstliche Intelligenz gibt sich als zukunftsweisender Fortschritt aus. Doch in Wahrheit basiert sie auf mitunter fehlerhaften Daten und führt obendrein zu Unterdrückung. Um echten Fortschritt zu erreichen, muss die Öffentlichkeit die Kontrolle zurückgewinnen.
Die Wissenschaft hat uns die Angst vor dem Unbekannten genommen. Mit ihrer Hilfe können wir unsere Annahmen durch Beobachtungen überprüfen. So können wir uns als Gesellschaft weiterentwickeln und große Herausforderungen bewältigen – zum Beispiel einen tödlichen Virus bekämpfen. Ein Jahr nach der Entdeckung des Coronavirus kennen wir nicht nur seine Eigenschaften, sondern wissen auch, wie wir seine Verbreitung eindämmen können. Das ist nur ein Beispiel für die Möglichkeiten, die uns die Wissenschaft bietet.
Zahlen und Maschinen allein sind jedoch keine Wissenschaft. Stattdessen gaukeln sie uns vor, dass der Mensch allwissend und allmächtig ist.
Von Zahlen und Maschinen ist oftmals die Rede, wenn es um Digitalisierung geht. Gemeint ist damit vereinfacht gesagt der Prozess, bei dem etwas Analoges in eine digitale Form umgewandelt wird, die von Computern gespeichert und verarbeitet werden kann. Digitalisierung bedeutet damit letztlich Abhängigkeit vom Computer. Die entsprechende Infrastruktur wird heutzutage oft (nicht immer) von Instanzen bereitgestellt, deren Geschäftsmodell von Tracking und Datenanalyse abhängt. Die fortgeschrittenen Formen solcher Datenanalysen werden gerne als künstliche Intelligenz bezeichnet, obwohl eine genaue Definition von KI noch in der Schwebe ist.
Die theatralische Fassade der Digitalisierung ist ein Angriff auf die Wissenschaft. Auf eine Herangehensweise, die unsere Gesellschaft von viel Leid befreit hat, indem sie uns geholfen hat, Probleme zu verstehen und Lösungen zu finden. Die technologische Revolution, oder wie auch immer wir es heutzutage nennen, ist jedoch nicht mit der wissenschaftlichen Methode vergleichbar. Warum?
Bereits die Erhebung von Daten für Anwendungen künstlicher Intelligenz ist problematisch, weil sie oftmals invasiv ist. Wenn man Daten sammelt, um spezifische Probleme zu erkennen, die Datenerfassung selbst aber bereits problematisch ist, verursacht man im Prozess neue Probleme.
Darüber hinaus ist auch die Genauigkeit der gesammelten Daten häufig zweifelhaft. Die schiere Menge der Daten soll eigentlich dazu dienen Ungenauigkeiten auszugleichen, stattdessen scheint sie oftmals zusätzlich zu verwirren.
Zweifelhaft sind auch die Methoden zur Interpretation der Datensätze. Mitunter führen scheinbar datenbasierte, weit hergeholte Behauptungen zu wilden Vorhersagen durch KI-Systeme. Als ob die Daten eine mystische Intuition anzapfen würden, die wir nicht verstehen können. Mit diesem Narrativ von künstlicher Intelligenz kehren wir zurück zu den dunklen Zeiten vorwissenschaftlichen Vorgehens.
Die Digitalisierung manifestiert eine neue Abhängigkeit vom Computer, dessen Infrastruktur in den meisten Fällen von privater Seite bereitgestellt wird. Wissenschaft ist deshalb keine neutrale Angelegenheit, weil sie stark von Fragestellungen beeinflusst wird, die von der individuellen Perspektive der fragenden Person abhängen. Wenn aber private Akteure diese Fragen stellen, dann werden die Ergebnisse ganz und gar einseitig sein und lediglich ihre privatwirtschaftlichen Interessen reflektieren.
Nicht nur ungenau, sondern aktiv unterdrückend
Unser extremes Vertrauen in Computer und Zahlen kann auch zu Fehlurteilen führen. So beschuldigte die britische Post hunderte Postbot:innen des Diebstahls, weil ihr Computersystem ein Defizit in der Buchhaltung anzeigte – dabei war bekannt, dass das System fehlerhaft war. Vielleicht, weil das Unternehmen so viel in Digitalisierung investiert hatte, dass es sich nicht eingestehen konnte, dass das System nicht funktionierte.
Die niederländischen Steuerbehörden haben bei dem Versuch, Betrüger:innen des Sozialsystems ausfindig zu machen, ironischerweise einen dubiosen Algorithmus angewandt, der korrelativ agierte und nicht kausal – wie es richtig gewesen wäre. Damit trieben sie fälschlicherweise tausende Familien mit doppelter Staatsbürgerschaft in den finanziellen Ruin. Inzwischen trägt die Digitalisierung in den Niederlanden durch vergleichsweise günstige Steuern dazu bei, dass digitale Unternehmen das dortige Sozialsystem betrügen können. Und während sich ganze Gesellschaften gegeneinander wenden und fälschlicherweise denken, dass Migrant:innen das Problem seien, lassen sie zu, dass Unternehmen ihre öffentlichen Institutionen dominieren und die öffentliche Meinung verzerren oder gar zum Schweigen bringen.
Die Finanzstrukturen, die die Digitalisierung vorantreiben, sind in ihrer Logik unterdrückend und auslaugend. Ihr Ziel ist es von Engpässen zu profitieren. Zum Beispiel indem man danach strebt, der weltweit einzige Anbieter in einem Bereich zu werden oder indem alle Taxifahrer:innen auf ein spezifisches Tool angewiesen sind, um ihre Kund:innen zu erreichen. Wenn man die gleiche Logik auf öffentliche Dienstleistungen anwendet, wäre das in etwa so, als würden wir private Unternehmen aus einem oder zwei Ländern als Vermittler für den Zugang von Bürger:innen zu ihren Regierungen einsetzen.
Im Namen des „Fortschritts“
Warum aber sollten wir unsere Gesellschaften von Instrumenten abhängig machen, die von vornherein unterdrückerisch sind? Warum sollten wir unsere öffentlichen Einrichtungen digitalisieren, wenn genau diese Instrumente von Systemen finanziert werden, die darauf ausgerichtet sind, unsere Stimme zu kontrollieren und zu lenken?
Öffentliche Einrichtungen sind das, was uns als Gesellschaft repräsentiert. Sie im Namen des „Fortschritts“ zum Nutzen einiger weniger zu dominieren und zu kolonisieren, ist trügerisch.
Für mich bedeutet Fortschritt wissenschaftliches Verständnis. Fortschritt bedeutet, sich von der Angst vor dem Unbekannten zu befreien und sie in Neugierde und Verständnis zu verwandeln. Für mich ist Fortschritt intersektionaler Feminismus. Fortschritt ist, wenn man sich um die Schwachen in der Gesellschaft kümmert und die Ressourcen so einsetzt, dass Menschen sich entfalten können.
Die Digitalisierung, wie sie heute finanziert und gestaltet wird, steht für nichts davon. Die Digitalisierung ist nicht mehr fortschrittlich.
Nachdem wir jahrelang versucht haben, ein verrottetes System durch Datenschutz und Ethikprüfungen zu korrigieren und Änderungen vorzuschlagen, die das System im Interesse der Allgemeinheit verändern sollten, wird klar, dass sich die Machtstrukturen nicht grundlegend ändern werden. Die Veränderungen, die stattfinden, sind lediglich kosmetischer Natur.
Technologie wird heute als Waffe eingesetzt, um koloniale patriarchalische Kontrolle auszuweiten. Solange dieser Missstand in den finanziellen und politischen Strukturen nicht angegangen wird, bringt die Digitalisierung für die Menschen keinen Vorteil. Stattdessen unterdrückt und untergräbt sie die Wissenschaft.
Solange die Öffentlichkeit durch gesunde, repräsentative öffentliche Institutionen keine Kontrolle über die Computerinfrastruktur hat – einschließlich Unterseekabel, Datenbanken, essentielle Softwarelösungen und -standards sowie über die Finanzen der Unternehmen, die digitale Lösungen anbieten – ist es am besten, wenn wir überhaupt nicht digitalisieren.
Wenn es heute heißt, das Gesundheits- und Bildungswesen sei „kaputt", sagt das mehr über die Weltsicht des Sprechenden aus als über das System selbst. Für digitale Ausbeuter, die bei jeder Gelegenheit den höchsten Preis verlangen wollen, mögen öffentliche Dienstleister vielleicht „kaputt“ sein. Aber aus der Sicht des Bürgers, der ein öffentliches Gut erhält, sind sie das keineswegs.
Würde man die Kommunikation zwischen Bürgern und öffentlichen Dienstleistern hingegen mithilfe der Digitalisierung verstärken, könnten besser informierte Entscheidungen getroffen werden. Die Effizienz von öffentlichen Einrichtungen würde sich so insgesamt verbessern.
Die Allgemeinheit wird jedoch nur dann von den Vorteilen der Digitalisierung profitieren, wenn die Öffentlichkeit die Kontrolle über wichtige Weichenstellungen hat und zugleich die Möglichkeiten begrenzt werden, digitalisierte soziale Infrastruktur zu dominieren, um daraus privaten Nutzen zu ziehen.
Cover Image: Eugene Zhyvchik/Unsplash