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  • 08.07.2021
  • Felix Lill

Die robotischen Spiele von Tokio

Die Olympischen Spiele in Tokio werden ohne Publikum stattfinden. Was für den Sport und die Fans eine Tragödie ist, bietet Japans Tech-Branche eine Chance: Sie schickt ihre neusten Roboter ins Stadion. 

Zuerst wippt er im Beat der Musik, aber als ich näher komme, hebt er die Hand zum Gruß. Er nimmt sie nicht wieder runter. „High-five!“, scheint er zu fordern. Und als ich einschlage, beginnen seine Augen zufrieden zu leuchten, sein überdimensionierter Kopf kindlich zu nicken. Miraitowa heißt das ungefähr 30 Zentimeter hohe, weiß-blaue Männchen mit kurzen Beinen und Hasenohren, das dank eingebauter Kameras im Kopf die Passant:innen schon von weitem erkennt.

Beim Händeschütteln mit ihm ist dieser Tage Vorsicht geboten, die Pandemie grassiert auch in Tokio, der größten Metropole der Welt. Deswegen sind viele Zuschauer:innen und Offizielle, die Miraitowa – oder sein rosa-weißer Zwilling Someity – mit niedlichen Augen begrüßt, eher verhalten. Ansonsten bewegen sich die zwei kleinen Grüßonkel mit guter Orientierung und anziehender Geschicklichkeit. 20 Gelenke haben sie und diverse Gesichtsausdrücke, mit denen sie auf ihr Gegenüber reagieren können. 

„Was bedeutet Zukunft?“


Anders als sonst für Olympische Spiele typisch handelt es sich bei den Maskottchen von „Tokyo 2020“ nicht bloß um in quietschige Kostüme verpackte Menschen. Miraitowa und Someity sind Roboter. Und sie sollen dafür stehen, dass die Spiele von Tokio, die voraussichtlich am 23. Juli starten, die „innovativsten Spiele jemals“ werden – so behaupten es die japanischen Veranstalter:innen und das Internationale Olympische Komitee (IOC). Miraitowa übersetzt sich aus dem Japanischen in etwa mit: „Was bedeutet Zukunft?“

Die autonomen Maskottchen sind nur ein trivialer Hinweis auf das, was sich die Organisator:innen und deren Sponsor:innen unter der Antwort vorstellen. „Bei Tokio 2020 wollen wir die Imaginationskraft der Menschen erobern, indem wir ihnen Roboter zur Verfügung stellen, die aus den Spielen einen Erfolg machen.“ Das sagte Nobuhiko Koga, Leiter des Frontier Research Center des IOC-Sponsors Toyota, noch vor der Pandemie. Er dürfte sich nicht ausgemalt haben, wie bedeutend solche Entwicklungen diesen Sommer noch werden könnten.

Ein breites Spektrum robotischer Helfer


Nun, wo die olympischen Spielstätten von Tokio inmitten der Pandemie komplett leer bleiben müssen, wird das Zusehen aus der Ferne bedeutender. Für solche Situationen, aber ohne Ahnung einer Pandemie, hat Toyota den T-TR1 entwickelt, einen sich auf Rollen bewegenden Roboter mit einem menschengroßen Bildschirm. Auf den ersten Blick handelt es sich um nicht mehr als einen Flatscreen-Monitor. Allerdings kann der T-TR1 auch als Kommunikator zwischen Zuschauer:innen in der Ferne und Personen vor Ort in der Spielstätte dienen. So sollen Publikumsfragen ins Stadion hinein ermöglicht werden. Dank der vertikalen Struktur des Bildschirms werden Personen am Wettbewerbsort darauf in Lebensgröße abgebildet. 

Etwas Ähnliches kann ein weiterer von Toyota für die Spiele entwickelter Roboter namens T-HR3, der anders als T-TR1 ein Humanoide ist – mit Kopf, Armen und Beinen. Der Telepräsenzroboter kann per ferngesteuerter Kamera die Bewegungen eines Zuschauers draußen spiegeln, damit im Stadion mit den Athlet:innen einschlagen und sie theoretisch auch umarmen. Dinge, die in Zeiten von Social Distancing selten geworden sind, und nun zumindest mittelbar werden.

Eine Neuerung, die sich ausschließlich in den Stadien bemerkbar macht, ist der „FSR“ – Abkürzung für „Field Robot Support.“ Der Assistenzroboter in Form einer fahrenden Box funktioniert in etwa wie ein intelligenter Rasenmäher: Im Olympiastadion sammelt er während der Wettkämpfe etwa geworfene Stäbe beim Weitwurf wieder ein – und soll die kürzesten und sichersten Routen durch das Stadion finden, sodass parallel stattfindende Wettkämpfe nicht gestört werden.

Ähnlich sieht es mit dem „Human Support Robot“ (HSR) aus sowie mit dem wesensverwandten „Delivery Support Robot“ (DSR). Beide fahren auf Rollen, orientieren sich per Kamera und finden die kürzesten Wege zum Ziel. Der DSR soll durch die Stadien navigieren und den Zuschauer:innen, sofern sie überhaupt auf die Ränge dürfen, Getränke oder Popcorn zunächst per Tabletbestellung verkaufen und dann liefern. Der HSR wird dagegen womöglich dann prominent, wenn die Olympischen Spiele vorbei sind und die Paralympischen begonnen haben. Der „Human Support Robot“ dient mobilitätseingeschränkten Personen per ausgefahrenem Greifarm als Gehhilfe oder Taschenträger.

Eine echte Hilfe, unabhängig von der Pandemie oder dem Sport, bietet auch der „Sutsugatarobo“ genannte Assistent, dessen Bezeichnung sich übersetzen lässt mit: „Anzugartiger Roboter.“ Es handelt sich um ein mit Sensoren ausgestattetes Exoskelett, das Träger:innen schwerer Lasten unterstützen soll. Die Technologie hierfür stammt von Panasonic und wird während der Olympischen Spiele fürs Schleppen von Paketen, Getränkekisten und ähnlichem genutzt. Künftig soll sie aber überall Verwendung finden, zum Beispiel in der Pflege.

Inspiration aus der Popkultur

Dass die Tokioter Spiele so sehr auf Robotik setzen, überrascht nicht weiter. Im ostasiatischen Land dominiert seit Jahrzehnten die Ansicht, dass automatisierte, menschenähnliche Gestalten weniger eine potenzielle Bedrohung sind als nützliche und auch liebenswerte Assistenten. Wohl auch deshalb ist Japan in der Assistenzrobotik – ob in Krankenhäusern, Pflegeheimen oder Kindergärten und Schulen – weltweit führend. Multilinguale Roboter werden als Behelfslehrer in Grundschulen eingesetzt, Roboterhaustiere mit weichem Fell für senile Senior:innen.

Die Inspiration für neue Roboter kommt dabei oft aus der Popkultur. Ein Beispiel aus der Spitzenforschung wäre da Hiroshi Ishiguro, der an der Universität Osaka ein Labor zu „Human-Robot-Interaction“ leitet und menschengleiche Maschinen baut. Sein Ziel ist, Roboter zu Freunden zu machen, wie es in der Fiktion längst geschehen ist – etwa in der berühmten Mangaserie „Astroboy“, die in den Nachkriegsjahrzehnten die Herzen der japanischen Jugend eroberte.

Yoshiyuki Sankai, ein Mitstreiter von Ishiguro, entwickelt im Innovationscluster von Tsukuba, nördlich von Tokio, Exoskelette zur Rehabilitation. Versehrte legen sich diese Geräte an, trainieren so ihre Muskelreize und lernen nach Verletzungen wieder zu laufen. Auch von deutschen Unfallversicherungen wird der Einsatz des Gestells schon erstattet. Sankai hat sein Unternehmen Cyberdyne genannt, so wie ein Roboterhersteller aus den Terminator-Filmen mit Arnold Schwarzenegger. Das Foyer der Unternehmenszentrale dort schmücken Figuren von alten Science Fiction-Animationen. Sankai macht kein Geheimnis daraus, woher er seine Ideen hat.

In Tokios wuseligem Stadtteil Shinjuku bietet ein Kaufhaus seit rund zwei Jahren ein ganzes Abteil für Assistenzroboter an, die mal äußerlich und mal inhaltlich an in Japan allgegenwärtige Animationen wie Doraemon oder Astroboy erinnern. Da sind etwa intelligente Maschinen, die den Wäschetrockner leeren und anschließend die Klamotten den entsprechenden Besitzer:innen zuteilen können. Oft sind solche Roboter humanoid. Denn anders als in westlichen Gesellschaften werden menschliche Eigenschaften an Maschinen in Japan als niedlich empfunden.

Technologien im Rampenlicht


Eigentlich ist es kein Wunder, dass diese neuen Roboter gerade bei den Olympischen Spielen zur Schau gestellt werden – auch wenn sie durch die pandemiebedingte Verschiebung auf diesen Sommer nun ein Jahr auf ihren ersten Einsatz warten mussten. Die größte Sportveranstaltung der Welt wird wegen seines Milliardenpublikums immer wieder als Schauplatz für neue Entwicklungen genutzt. Als Tokio 1964 zum ersten Mal die Olympischen Spiele veranstaltete, wurde parallel der Hochgeschwindigkeitszug Shinkansen eingeweiht. Und die Wettbewerbe wurden erstmals weltweit per Satellit übertragen.

Vor zwei Jahren nutzte auch der japanische Nachbar Südkorea Olympia für eine Art Catwalk, als in Pyeongchang die Winterspiele stattfanden. Südkoreas Tech-Giganten erprobten erstmals das 5G-Internet und führten „immersive gaming“, also Gaming mit besonderer Spieltiefe, durch VR-Brillen vor. Ein Jahr später erprobte der Telekommunikationskonzern KT auf Basis der 5G-Technologie erstmals so etwas wie Hologrammtechnik in einem Baseballstadion: Durch die Smartphones der auf den Rängen sitzenden Besucher sichtbar flog direkt vor dem Spiel ein Drachen durch das Stadion und erschlug mit seinem Schwanz die Anzeigetafel. Als die Zuschauer ihre Smartphones mit der ultrahohen Übertragungsgeschwindigkeit aus dem Blickfeld nahmen, war wieder alles beim Alten.

Dass sich die bei Sportgroßereignissen erprobten Technologien auch durchsetzen, ist aber nicht sicher. Die Branche der virtuellen Realität, von Quasi-Hologrammen bis zu Games durch VR-Brille, hat sich auch drei Jahre später noch nicht recht etabliert. Ähnlich ist es mit diversen Robotern, die japanische Betriebe immer wieder auf den Markt gebracht haben. Vor sechs Jahren öffnete etwa im westjapanischen Nagasaki das „Henna Hotel“, das von der Rezeption über den Concierge bis zur Kantine alles Robotern überlassen sollte. Nach und nach wurden aber Maschinen wieder durch Menschen ersetzt, weil sie nicht so reibungslos funktionierten wie erhofft. Expandiert ist die Hotelkette auch nicht wie geplant. 

Nun aber könnte gerade die Pandemie, die für die Olympischen Spiele von Tokio an sich ein großes Unglück ist, für die in ihrem Rahmen vorgestellten Roboter eine echte Chance sein. Sie sind schließlich dazu da, menschliche Nähe zu ersetzen.

Titelbild: Imago Images

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