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  • 08.07.2022
  • Miriam Meckel

Die Qual der Wahl

Konzerne kennen viele unserer Präferenzen. Wenn jedoch einzelne Konzerne besser wissen, was Menschen wollen, als diese Menschen selbst, sollten wir misstrauisch werden.

Die Menschheit verfügt über eine unbewusste, aber existenzielle Befähigung zur Selbstironie. Wie sonst wäre es zu erklären, dass wir seit Jahrhunderten mit einem Wirtschaftssystem leben, das die widersprüchlichen Bestrebungen des Homo oeconomicus, des Homo libertatis und des Homo otiosus gegeneinander ausspielt? Ich korrigiere: Das Wirtschaftssystem tut nix, wir sind ja das System. Wir selbst spielen unser Bedürfnis nach wirtschaftlichem Nutzen, individueller Freiheit und Faulheit gegeneinander aus. Aber eins nach dem anderen.

Seit Jahrzehnten streiten sich verschiedene Flügel der Wirtschaftswissenschaften, wie es um den Menschen und seine ökonomischen Motive bestellt ist. Etwas verkürzt gesagt argumentieren die einen, dass jeder Mensch als rational handelnder Agent in der Welt unterwegs ist und als Nutzenmaximierer die richtigen Entscheidungen trifft. Das bedeutet in einer stets auf Wachstum getrimmten Wirtschaft auch, dass eine größere Auswahl dem rationalen Nutzenmaximierern bessere Bedingungen schafft: Sie können vergleichen und haben die Wahl – mehr ist mehr.

Dieses Menschenbild ist nicht nur von vielen Ökonom:innen und Philosoph:innen kritisiert worden. Auch eine Reihe von Studien hat gezeigt, dass die menschliche Begabung zur rationalen Entscheidung oft so weit reicht, wie ein Schwein springt. Eine der bekanntesten ist das Marmeladenexperiment aus dem Jahr 2000 von Sheena Iyengar und Mark Lepper. In einem Supermarkt in Kalifornien wurden der Kundschaft verschiedene Marmeladen zum Probieren angeboten – einmal 24 Stück und einmal 6. Der homo oeconomicus hat zu diesem Experiment eine klare Prognose zur Hand. Je mehr Marmeladen zur Auswahl, desto größer die Vergleichs- und Kaufbereitschaft der Kunden. Aber nicht mal beim simplen Frühstücksaufstrich ging diese Gleichung auf. Fand die Kundschaft 6 Marmeladen vor, probierten 40 Prozent mindestens eine Sorte, und 30 Prozent kauften ein Glas. Bei 24 Marmeladen probierten zwar 60 Prozent, aber nur drei Prozent wollten auch eine kaufen. Offenbar ist unser rationaler Entscheidungswille in der Multioptionsgesellschaft überfordert. Wir verlieren den Überblick, entscheiden gar nicht, oder sind mit der einmal getroffenen Entscheidung nachhaltig unzufrieden. 

Anders gesagt: weniger ist mehr.

Das ist eine spannende Wendung des ökonomischen Menschenbildes, die der US-amerikanische Autor Dave Eggers in seinem aktuellen Roman „The Every” für einen perfiden Plot nutzt. In dem Buch, das dem Weltbestseller „The Circle” nachfolgt, schreibt Eggers die Zukunftsgeschichte des Silicon Valley fort. Der Konzern aus „The Circle” hat die Konkurrenz aufgekauft und agiert nun als Alles-Anbieter in einer Algokratie, einer vollständig durch Technologie gesteuerten und überwachten Welt. 

Eggers entwirft gegen Ende des Romans eine strategische Wende für „The Every”, die auf den ersten Blick paradox wirkt. Die enthält eine total Abkehr von der grenzenlosen Wachstumsidee des Silicon Valley und folgt der Logik des Marmeladenexperiments: die Reduzierung aller Angebotskategorien auf ein Minimum, gesteuert durch „The Every”.

Der Konzern kennt bereits sämtliche Präferenzen aller Konsumentinnen und Konsumenten (und damit fast aller Menschen, denn kaum jemand kann sich dem Zugriff von „The Every” entziehen). Könnte er nicht die Schnittstelle zwischen allen Angeboten und aller Nachfrage auf dem Weltmarkt sein? Der Konzern entscheidet auf Basis aller vorliegenden Daten, welche Produkte in welchen Kategorien am meisten gebraucht und am besten bewertet werden, und nur die werden überhaupt noch hergestellt – sozusagen ein KI-gestütztes Ausmendeln der Topseller, mit denen dann alle Menschen leben müssen. So ließe sich alles schließlich einfacher, übersichtlicher und nachhaltiger gestalten. Denn „grenzenlose Wahl bedeutet das Ende der Welt,” so das neue Motto.

Es gehört zum Plot des Romans – Spoiler Alert! – dass diese Idee eigentlich von einer subversiven Mitarbeiterin stammt, die den Konzern damit zu Fall bringen möchte. Dann aber wird daraus plötzlich eine vielversprechende Zukunftsstrategie, die noch mehr Macht in die Hände von „The Every” spielen wird.

Es tut der Entscheidung des Menschen empirisch bewiesen gut, wenn die Qual der Wahl reduziert wird. Wenn jedoch einzelne Konzerne, Institutionen oder Regierungen besser wissen, was Menschen wollen, als diese Menschen selbst, sollten wir misstrauisch werden. Es zeugt weniger von ökonomischer Optimierung oder demokratischem Wohlwollen als von totalitären Allmachtsfantasien. Aus der Geschichte kennen wir diese Idee übrigens als ökonomische Variante des „real existierenden Sozialismus”. Sie heißt Planwirtschaft und ist krachend gescheitert. 

Titelbild: Victoriano Izquierdo/Unsplash

Miriam Meckel

Miriam Meckel ist Mitgründerin und Geschäftsführerin von ada und Professorin für Kommunikationsmanagement an der Universität St. Gallen, Schweiz. In dieser Kolumne schreibt sie alle zwei Wochen über Ideen, Innovationen und Interpretationen, die Fortschritt bringen und unser Leben verbessern. Denn was die Raupe das Ende der Welt nennt, nennt der Rest der Welt einen Schmetterling.

Diese Kolumne erscheint sowohl beim Handelsblatt als auch bei uns.

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