Im Metaversum werden die Menschen nicht mit einem, sondern mehreren Avataren unterwegs sein.
Mein 93-jähriger Vater ist auch ein Philosoph des Lebens. Einer seiner häufig zitierten Sätze handelt von der "Fragmenthaftigkeit der menschlichen Existenz". Was er damit meint: Menschen sind nicht immer konsequent und konsistent in dem, was sie tun. Das ganzheitliche Bild eines Individuums als einheitliches, moralisches und verantwortliches Wesen bricht immer wieder - den äußeren Umständen geschuldet oder einfach uns selbst. Unbewusst hat mein Vater damit eine Entwicklung vorhergesehen, die uns auf der nächsten Zündstufe des Internets, im Metaversum, intensiv beschäftigen wird: die Fragmentierung der individuellen Identität oder - die Disruption des Ich.
Für die virtuellen Welten des Metaversums brauchen wir virtuelle Repräsentationen unserer selbst. Diese Avatare sind selbst als hyperrealistische Kreationen durch neue Technologien leicht zu erschaffen, zum Beispiel mit der App "Metahuman Creator" von "Unreal Engine", dem führenden Tool für die Gestaltung anspruchsvoller Computerspielwelten von Epic Games. Die App verspricht die Erschaffung "hochauflösender Menschen".
Hochauflösend beschreibt nicht nur technisch die Bildqualität, mit der die Avatare im Metaversum unterwegs sind. Hochauflösend ist auch der Effekt, den diese Technologie auf individuelle Identitäten haben wird. Es wird nicht nur den einen Avatar geben, mit dem jeder Mensch überall im Metaversum unterwegs sein wird, auch wenn das Problem der "Avatar-Portabilität" längst intensiv unter Expertinnen und Experten diskutiert wird. Sie soll es möglich machen, dass man sich künftig mit den Avataren friktionslos zwischen den unterschiedlichen Domänen des Metaversums bewegen kann.
Nach Ansicht der Zukunftsforscherin Amy Webb werden wir mit zahlreichen unterschiedlichen Avataren im Metaversum unterwegs sein. Je nach Bedarf und Stimmungslage kann ich dann als ganzkörpertätowierte Punk-Lady in den coolsten Metaversumklub gehen oder im blauen Zweireiher in der Videokonferenz sitzen. Nichts davon muss ich noch physisch selbst im realen Leben machen. Und kein Bild meiner selbst muss mit den vielen anderen übereinstimmen. Was bedeutet das für die menschliche Identität? Oder plakativer gefragt: Wer bin ich dann noch und wenn ja, wie viele? "Identität", das ist in der Psychologie die als Selbst erlebte innere Einheit einer Person. Sie bestimmt auch, wie andere uns wahrnehmen.
Es ist eine soziale und zivilisatorische Errungenschaft, dass jeder Mensch im Verlauf des eigenen Lebens lernen muss, mit sich selbst als Ganzem umzugehen, die inneren Widersprüche auszuhalten und sie im Kontakt mit der Welt immer wieder auszuhandeln. Wenn ich mich künftig in jeder sozialen Situation im Metaversum so designen kann, dass mein Avatar perfekt an die jeweilige Umwelt angepasst ist, wo bleiben dann diese Widersprüche? Werde ich langweilig, oder werde ich schizophren?
Über Jahrhunderte zeigt die Geschichte der Menschheit, dass Identitätskonflikte im Zentrum von Auseinandersetzungen, Bürgerkriegen oder Gewaltakten stehen. Das sehen wir auch gerade wieder in der Ukraine. Werden wir mit unseren Avataren die Metaversumwelt in ein Friedensreich verwandeln, weil jede und jeder sich jeweils so virtuell repräsentieren kann, dass alles immer perfekt passt?
Daran glaube ich nicht. Da ist erstens das Problem der Rechenschaftspflicht. Werden wir sicherstellen können, dass ein weltliches Individuum für alle Fehltritte seiner vielen Avatare Verantwortung tragen muss? Und wenn ich, zweitens, selbst technisch in der Lage bin, meine Avatare hyperrealistisch zu designen, dann können andere das auch.
Während das ja eine durchaus interessante Vorstellung ist, graust es einem bei der anderen Möglichkeit: Es wird einen virtuellen Schwarzmarkt für gefakte Avatare geben. So wie wir heute mit Deepfake-Videos prominenter Persönlichkeiten konfrontiert sind, so wird es im Metaversum auch Deepfake-Avatare geben, die vorgeben, eine Person zu repräsentieren.
Im Metaversum wird die Identität des Individuums weiter zersplittern, nur dass die einzelnen Fragmente immer kleiner werden.