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  • 09.07.2021
  • Finn Blug

Die Generation „Remote Onboarding“

Wie ist es, inmitten einer Pandemie ins Berufsleben einzusteigen? Unser Autor hat es erlebt – und gelernt, wie ein Onboarding-Prozess auf Distanz gelingen kann.

Es ist Donnerstagabend Mitte Februar, mein Team trifft sich nach dem Feierabend virtuell zu einem Online-Escape-Room-Spiel. Ich mag Escape-Room-Spiele nicht sonderlich. Ich kann dem kollektiv-stressigen Rumgeknobel wenig abgewinnen. Dazu bin ich erschöpft. Die ersten Arbeitstage meines Berufslebens strengen mich noch sehr an. Trotzdem habe ich zugesagt – schließlich bin ich ganz frisch im Team, kenne noch nicht mal alle Kolleg:innen und Teamevents fallen in Zeiten von Remote-Work auch nicht vom Himmel.

So wie mir ging es in diesem Jahr vielen anderen Berufseinsteiger:innen. Wir sind die Generation „Remote Onboarding“ – inmitten der Pandemie wechselten wir vom Studium mit all seinen Annehmlichkeiten und Freiheiten ins Berufsleben. Aber auch ohne Pandemie ist das ein einschneidender Wendepunkt im Leben. Es ist der Moment, in dem man von einer passiven Rolle der Suche, der Orientierung und des Wachsens, in eine aktive Rolle des Ankommens, des Gestaltens und des Gewachsenseins wechseln soll. So weit die Theorie.

Aber genau wie der ewig verklärte, aber wenig lebensverändernde Jahreswechsel, ist das natürlich eine Fiktion – Veränderung passiert nicht von jetzt auf gleich, sondern ist ein dynamischer Prozess des Einfindens und Anpassens. Und dieser Prozess fällt vielen jungen Menschen schwer. Aus einer Studie von 2020 geht hervor, dass sich Beschäftigte unter 30 im Job signifikant stärker gestresst fühlen, als der Durchschnitt aller Arbeitnehmer:innen. Etwa ein Viertel der Beschäftigten unter 30 klagt über Müdigkeit und Erschöpfung, sowie über innere Anspannung.

Diese Zahlen überraschen mich nicht. Der Start ins Berufsleben hat auch meinen bisherigen Alltag auf den Kopf gestellt. Die intensive Masterarbeitsphase habe ich noch ganz studentisch mit nächtlichen Schreibtischsitzungen begangen und dabei wenig Kontakt mit der Außenwelt gehabt. Und plötzlich finde ich mich in einem neuen Alltag wieder, der mich mit anderen Menschen zusammenbringt und meine bisherigen Prioritäten auf einen Schlag verschiebt. Dazu kommt der ambitionierte Anspruch an mich selbst: Ich möchte möglichst perfekte Arbeit abliefern, mich gut ins Team integrieren und beweisen, dass ich die richtige Person für den Job bin.

Berufseinstieg aus der Distanz


Ungleich anspruchsvoller wird die Aufgabe, wenn das Team überwiegend aus dem Home-Office arbeitet. Vom heimischen Schreibtisch aus die Atmosphäre und zwischenmenschlichen Nuancen mitzubekommen, die eine gemeinsame Grundlage mit den neuen Kolleg:innen bilden, ist nicht einfach. Um diese Hürde zu überwinden, braucht es vor allem eins: ein inklusives und engagiertes Team. Und das entsteht nicht von selbst. Unternehmen sollten Strukturen und Angebote schaffen, um den Berufseinstieg auf Distanz zu erleichtern.

Das bringt mich zurück zu dem Donnerstagabend und unserem Online Escape Room. Meine Kolleg:innen und ich sind mitten in einen Krieg chinesischer Mafiabosse geraten – wir müssen unseren entführten Bruder Wen Dee finden und so die Ehre unserer Triade verteidigen. Wir kommen nur schleppend voran, klicken uns durch Szenen, suchen nach Hinweisen, versteckten Telefonnummern und entschlüsseln Zugangscodes. Ab und zu landen wir in einer Sackgasse und müssen auf Tipps zurückgreifen. Wir sitzen alle vor unseren Laptops, nippen an unseren Getränken und sind gemeinsam ratlos. Aber jedes kleine Rätsel, das wir zusammen lösen, fühlt sich wie ein kleiner Sieg an.

Das Spiel macht mir immer mehr Spaß. Und noch viel wichtiger: Ich bekomme ein Gefühl für die Dynamik meines neuen Teams. Ich merke, wer den Lead beim Rätseln übernimmt, wer laut denkt und wer im Stillen knobelt, um dann plötzlich mit einer überraschenden Lösung aufzuwarten. Aber vor allem stelle ich fest, dass alle gemeinsam lachen können – nicht zuletzt auch über sich selbst. Das passt zu mir, ich fühle mich wohl und kann ich selbst sein. Diese Erkenntnis markiert einen wichtigen Schritt bei der Eingewöhnung und Eingliederung in ein neues Team.

Persönliche Beziehungen kultivieren


Der Onboarding-Prozess zur Integration neuer Mitarbeiter:innen, sagt viel aus über die Kultur einer Organisation. Im Onboarding spiegelt sich nicht nur die Offenheit eines Teams, sondern auch die Art und Weise wider, mit der Aufgaben erledigt und Probleme angegangen werden. Das funktioniert vor allem, indem von Beginn an persönliche Beziehungen etabliert und kultiviert werden. Dabei können schon Coffee Dates helfen, die einzelne Teammitglieder mit den „Neuen“ haben, um sie näher kennenzulernen. Besonders hilfreich ist ein Mentoring-System, in dem neue Mitarbeiter:innen stets eine persönliche Bezugsperson zugewiesen bekommen. Diese Person ist Ansprechpartner:in für alle aufkommenden Fragen, seien sie noch so trivial.

Ein solches „Buddy“-System gibt es zum Beispiel bei Microsoft. Das dortige Mentoring-System habe nicht nur die Zufriedenheit neuer Teammitglieder um 36 Prozent gesteigert, sondern auch ihre Produktivität beflügelt, heißt es in einem Gastbeitrag für die Harvard Business Review: Je näher die Begleitung durch den Buddy und je häufiger die gemeinsamen Treffen, desto schneller kämen die Neuankömmlinge ins produktive Gestalten. Davon profitierten letztlich nicht nur neue Teammitglieder, sondern auch die Mentor:innen selbst, indem sie Führungsqualitäten wie Kommunikationsfähigkeiten und Unterstützung schärften.

Auch bei uns gibt es ein „Buddy“-System: Meine Mentorin war trotz der räumlichen Trennung jederzeit erreichbar und führte mich, wenn nötig auch über Bildschirmfreigaben, durch einzelne Abläufe und Prozesse. Zugleich konnte ich in virtuellen Coffee Dates die anderen Kolleg:innen kennenlernen. Hinzu kamen Team-Events, wie der Online-Escape-Room oder virtuelle Workshops. Neben der eigentlichen Arbeit führte das dazu, dass ich mich in kürzester Zeit sehr wohl gefühlt habe, obwohl ich überwiegend von zuhause aus gearbeitet habe.

Generell ist eine solche intensive Betreuung und die Vermittlung der Werte einer Organisation in Zeiten von Remote-Work besonders anspruchsvoll. In meinem Fall gelang das vor allem, weil unser Team äußerst inklusiv und offen agiert – ob in Teammeetings oder auch in Einzelsessions, es gibt einen stetigen und authentischen Austausch untereinander. Das äußert sich in gegenseitiger Resonanz, die letztlich Vertrauen schafft.

Für den unmittelbaren Einstieg können aber auch viele kleine Maßnahmen das Ankommen neuer Mitarbeiter:innen erleichtern: ein gemeinsames virtuelles Frühstück, kurze Willkommensvideos der Kolleg:innen, sowie ein ins Home Office gelieferter Kaffee oder sogar ein Willkommenspaket. Wichtig ist letztlich, dass Neuankömmlinge spüren, dass ihr Team bemüht ist, die Distanz der virtuellen Arbeitssituation zu überwinden. Die Frage danach, ob das auch in vollem Umfang gelingen kann, ist dann vielleicht gar nicht mehr so bedeutend.

Auch Onboarding sollte hybrid stattfinden


Denn zugleich habe ich festgestellt: Ganz ohne direkten Kontakt geht es nicht. Keine noch so enge Begleitung und Unterstützung kann tatsächliche Präsenz vollständig ersetzen. Um den Spirit der Organisation, die Zugewandtheit der Kolleg:innen, aber auch die Dynamik des Teams zu durchdringen und mitzugestalten, sind physische Treffen enorm wichtig.

Bei einzelnen Präsenzworkshops und Team-Days lernte ich meine Kolleg:innen Schritt für Schritt persönlich kennen. Das war zunächst befremdlich, schließlich kannte ich manche von ihnen nur zweidimensional in Frontalansicht – Zoom-Perspektive eben. So lernte ich aber nicht nur ihre Hinterköpfe kennen, sondern vor allem rundete sich der Prozess meines Ankommens ab. Und vielleicht hat gerade diese Mischung aus Remote und Präsenz meinen Einstieg in das Berufsleben sanfter und ausgewogener gestaltet.

Dass ein Großteil der Arbeitgeber:innen künftig generell auf ein solches hybrides Arbeitsmodell setzt, könnte also auch eine echte Chance sein. Und wer weiß? Vielleicht wird das kollektiv-stressige Rumgeknobel von Online-Escape-Rooms bald offiziell Teil des Onboarding-Prozesses vieler Organisationen sein.

Titelbild: Keenan Beasley/Unplash

Finn Blug

Finn Blug hat im Februar 2021 als Online Editor im ada-Team angefangen und erstellt redaktionelle Inhalte für das Digitalmagazin, den Newsletter und das Fellowship. Außerdem betreut er die Social Media Kanäle von ada. Dass er erst so frisch dabei ist, kann er heute kaum glauben.

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