Christian Hamm forscht am Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven dazu, wie sich die Getriebe von Windkraftanlagen leichter machen lassen. Warum er und seine Kolleg:innen sich dabei die Natur zum Vorbild nehmen und welche Möglichkeiten die Bionik ihnen eröffnet, erklärt er im Interview.
Herr Hamm, Sie lassen sich bei Ihrer Forschung von Algen inspirieren. Warum ausgerechnet Algen?
Als Meeresforschungsinstitut nutzen wir seit vielen Jahren die Bauprinzipien mariner Organismen für Leichtbaulösungen in der Technik. Am wertvollsten haben sich dabei Kieselalgen erwiesen. Diese setzen Schalen aus Silikat ein, um sich vor Fressfeinden zu schützen. Die Schalen sind sehr leicht und ungeheuer belastbar. Außerdem haben sie eine riesige Formenvielfalt: Es gibt ungefähr 100.000 verschiedene Kieselalgen. Diese setzen wir systematisch ein, um optimale Leichtbaulösungen zu entwickeln. Das heißt, wir abstrahieren die Bauprinzipien und passen sie dann durch Optimierungsverfahren auf das jeweilige technische Thema an.
Welche Eigenschaften der Kieselalgen übernehmen sie denn für die Windkraftanlagen?
Zum Beispiel verzweigte Rippen. Das sind unregelmäßige Rahmenkonstruktionen, die je nach Anforderung mal dicker, mal dünner, mal größer, mal kleiner sind. Und die kombinieren und optimieren wir für die Getriebe von Windkraftanlagen.
Warum müssen die Getriebe denn überhaupt leichter werden?
Wenn es uns gelingt, deutlich leichtere Getriebe für Windkraftanlagen zu entwickeln, dann hat das eine ganze Reihe von Auswirkungen. Zum Beispiel sind leichtere Getriebe nachhaltiger in der Herstellung. Insgesamt sind die Anlagen bei gleicher Leistung kostengünstiger und das wiederum erhöht die Wirtschaftlichkeit regenerativer Energie und kommt dem Klimaschutz zugute.
Die Getriebe herkömmlicher Windkraftanlagen sind sehr schwer – das beeinflusst die gesamte Ökobilanz der Technologie. Foto: Chris Barbalis/Unsplash
Welchen Vorteil bietet die Bionik gegenüber herkömmlichen Forschungsmethoden?
Die Bionik erweitert den Horizont ganz erheblich. Vor allem, wenn es komplizierter wird. Wenn wir zum Beispiel stabile Leichtbaustrukturen mit weiteren Eigenschaften kombinieren wollen, dann wird es mit konventionellen Methoden schwierig, weil die Berechnungen sehr aufwendig werden. Aber biologische Strukturen sind generell sehr gut darin, verschiedene Funktionen zu integrieren. Sie sind nicht nur leicht und stabil, sondern zusätzlich zum Beispiel durchlässig, schwingungsarm oder aus nachhaltigem Material gebaut.
Was gehen sie nun weiter vor?
Wir entwickeln zunächst neue Zahnradstrukturen für die Getriebe der Anlagen und optimieren diese schrittweise. Danach kommt ein starkes Konsortium aus Instituten und Unternehmen ins Spiel: Es entsteht ein ausgefeilter Prüfstand für die Prototypen mit Sensoren, um Vibrationen, Temperatur, Betriebszuverlässigkeit und Kraftverläufe zu messen. Und schließlich versuchen wir die Ergebnisse unserer Forschungsprojekte immer so zu abstrahieren, dass sie effektiv auf alle möglichen anderen industriellen Entwicklungen angewendet werden können. Dafür haben wir ein systematisches Verfahren samt Software entwickelt: Je nachdem, welche Größen, Materialien oder welche Belastbarkeit man benötigt, werden automatisch passende Ergebnisse generiert, die auf unseren Erkenntnissen beruhen. Jede:r, der besonders leichte, leistungsfähige Maschinen oder Strukturen bauen möchte, kann so auch von diesem Projekt profitieren.
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Titelbild: Die Rippenstruktur einer Kieselalge unter dem Mikroskop (Getty Images).