Bereits Leonardo Da Vinci ließ sich bei seinen Erfindungen von der Natur inspirieren. Heute gilt die Bionik als Wegbereiter für den nächsten Megatrend: die biologische Transformation.
Als Georges de Mestral 1941 von einem Ausflug heimkehrte, machte er eine folgenschwere Entdeckung. Unter dem Mikroskop untersuchte der Schweizer Ingenieur Kletten, die unterwegs am Fell seines Hundes kleben geblieben waren. Dort sah er winzige elastische Häkchen an den Stachelspitzen der widerspenstigen Früchte. So kam er auf die Idee für eine geniale Erfindung, bestehend aus vielen kleinen Haken und Ösen, die sich miteinander verbinden, wenn sie aufeinandergedrückt werden: Den Klettverschluss. Das Geräusch eines aufgehenden Klettverschlusses hat man heutzutage im Ohr, ohne es wirklich zu hören: „Rrratsch!“. Beinahe jede:r dürfte ein Kleidungsstück mit der vielseitig einsetzbaren Alternative zu Knöpfen, Reißverschlüssen und Schnürsenkeln besitzen und damit einen Mechanismus nutzen, dessen Ursprung sich im Reich der Pflanzen findet.
Der Klettverschluss ist nur eine von unzähligen Erfindungen, die von der Natur inspiriert wurden. Bionik, ein Kofferwort bestehend aus den beiden Wörtern Biologie und Technik, ist ein Überbegriff für diese Innovationen. Die Bionik inspiriert nicht nur zu praktischen Alltagserfindungen, sondern beflügelt auch die Entwicklung künstlicher Intelligenz: neuronale Netze etwa, die selbständig lernen und komplexe Muster erkennen können, sind menschlichen Gehirnen nachempfunden. Bionische Entwicklungen finden heute Anwendung in so unterschiedlichen Bereichen wie der Luftfahrt, der Medizintechnik, der Architektur, der Informatik und sogar der Wirtschaftswissenschaft. Für manche schlummert in der Bionik gar die nächste Stufe der industriellen Revolution: auf die digitale folgt nun die biologische Transformation. Sie soll, so die Hoffnung, Antworten auf die riesigen ökologischen Herausforderungen der Gegenwart liefern.
Spricht Karoline von Häfen über Bionik, strahlt sie über das ganze Gesicht. „Die Natur kann es einfach am besten“, ist die Industriedesignerin überzeugt. Sie leitet ein Bionik-Team an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Wirtschaft im schwäbischen Konzern Festo. Das Team ist der zentrale Knoten des Bionic Learning Networks, das Festo 2006 ins Leben gerufen hat. Darin tauschen sich Universitäten, Forschungsinstitute und andere Unternehmen über ihre bionische Forschung aus. Selbst dieses Netzwerk findet sein Vorbild in der Biologie: „Der Austausch ist ein zentrales Element in der Natur. Wie steht alles in Beziehung zueinander? Wo sind die gegenseitigen Einflüsse? Wie kommt man in der Gemeinschaft weiter?“, so von Häfen.
Festo entwickelte beispielsweise in Kooperation mit der Hochschule Oslo einen bionischen Greifer. Das Gerät ist inspiriert von der Zunge des Chamäleons. Will sich das Kriechtier ein Insekt schnappen, schießt es seine lange Zunge blitzschnell wie ein Katapult aus seinem Mund. Dabei wölbt sie sich in der Mitte so, dass sie perfekt nach dem Beutetier greifen kann. „Das ist ein Mechanismus, der für uns zentral ist“, so von Häfen. Der technische Nachbau der Chamäleonzunge funktioniert ähnlich: Eine wassergefüllte Silikonkappe stülpt sich über das Zielobjekt und kann es so fassen. „Es ist ein Paradigmenwechsel in der Automation, dass wir mit einem einzigen Greifer viele unterschiedliche Objekte greifen, halten und bewegen können“, erklärt von Häfen. Andere von Festos Maschinen machen sich sogar bereits im begrenzten Maße selbstständig. Das Bionik-Team trainiert mit Tastsensoren ausgestattete Roboterhände mithilfe von künstlicher Intelligenz darauf, Objekte eigenständig zu greifen.
Uneigennützig war Festos Idee vom Bionic Learning Network freilich nicht: „Das Kerngeschäft von Festo ist die Industrieautomation. Deswegen haben wir in der Bionik immer auch das Bestreben, dazu Parallelen zu schaffen.“ Auf der Grundlage des Chamäleon-Greifers entwickelte Festo ein eigenes Produkt, das für Automatisierungsprozesse optimiert ist. Dennoch bleibt für die Tüftler:innen genügend Zeit übrig, um an bionischen Maschinen zu basteln, deren Anwendungszwecke sich nicht direkt erschließen. Tiere wie Pinguine, Kängurus, Schmetterlinge oder Ameisen bauten sie schon nach. „Das ist vielleicht etwas weiter weg vom Kerngeschäft. Aber letztlich machen wir es aus einer Faszination heraus“, so von Häfen.
Leonardo Da Vincis Studien von Vögeln. Foto: Getty
Auch Oliver Schwarz vom Fraunhofer Institut für Produktionstechnik und Automation in Stuttgart ist fasziniert von der Bionik. Er sagt: „Die Natur ist über Jahrmilliarden lebensfähig geworden. Davon können wir etwas lernen.“ Schwarz und andere Wissenschaftler*innen erkennen in der Bionik weit mehr Potenziale als nur für die Entwicklung technologischer Geräte. „Wir müssen Prozesse ganzheitlicher denken“, meint Schwarz. Diesem Ansatz folgend ist die Bionik Teil einer biologischen Transformation, die eine Antwort auf die drängenden ökologischen Krisen unserer Gegenwart liefern könnte.
Die Idee der biologischen Transformation ist folgende: Die Natur hat nachhaltige Kreislaufsysteme perfektioniert. Davon soll sich die Wirtschaft nun etwas für ihre Wertschöpfungsketten abschauen. Zielzustand der biologischen Transformation ist eine technologiebasierte Bedarfswirtschaft. Darin würden Produkte ausschließlich nach Bedarf und dezentral in lokalen Fabriken produziert werden, außerdem gäbe es dank Recycling keinen Abfall mehr. Innerhalb einer solchen biointelligenten Wertschöpfung würden Digitaltechnik und Sensorik eine tragende Rolle spielen: Sie ermöglichten einen effizienten Informationsaustausch zwischen Biologie und Technik - innerhalb von Systemen und zwischen Systemen. Fabriken, Gemeinden und ganze Städte könnten so nachhaltig werden. „Die biologische Transformation ist eine Antwort auf die Fridays for Future-Bewegung“, so Schwarz.
„Schuster, bleib bei deinem Klettverschluss“, könnte man jetzt meinen. Und es stimmt: Obwohl die Bionik heute schon Anwendung in vielen unterschiedlichen Bereichen findet, ist die Idee der biologischen Transformation noch eine Utopie. Wie die digitale Transformation wird sie nur kommen, wenn sie Wissenschaft, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft überzeugt. Ob Apple-Guru Steve Jobs seinerzeit schon mal etwas von dieser Utopie gehört hat, ist fraglich. Jedenfalls glaubte er fest an die Potenziale der Bionik, denn er sagte einmal: „Ich denke, die größten Innovationen des 21. Jahrhunderts werden an der Schnittstelle zwischen der Biologie und Technologie sein. Eine neue Ära beginnt.“ Die Zukunft wird zeigen, ob er Recht behält.
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