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  • 03.02.2023
  • Miriam Meckel

Die Aggression der Fanatiker

Noch vor wenigen Monaten wäre die Lieferung von Leopard-2-Panzern an die Ukraine unvorstellbar gewesen. Weitere Waffenlieferungen sollten jedoch nach wie vor nur durchdacht erfolgen. 

Alte Landkarten verzeichnen einen neuen Boom. Ausgewiesene Händler vertreiben sie international für viel Geld, und Begeisterte, auch Menschen der jüngeren Generation, nutzen sie. Nicht im alltäglichen Leben, wo man früher während des Fahrrad- oder Autofahrens mit origami artig gefalteten Plänen hantierte. Sie hängen sie an die Wand. Ist das nur eine neue Retrowelle, ein nostalgischer Fetisch?

Wohl kaum. Karten verbildlichen markiertes Territorium, geografische Räume, mit denen auch die Verteilung politischer Macht für die erhoffte Ewigkeit dokumentiert wird. Es ist vielleicht kein Wunder, dass gedruckte Karten genau in der Zeit wiedererwachen, in der in den großen Städten dieser Welt fast 95 Prozent aller Autos mit Hilfe von GPS ihren Weg finden. In einer Zeit, die sich im vergangenen Jahr gewendet hat. Als ein US-Militärexperte am 24. Februar nachts gegen drei Uhr auf Google Maps verfolgte, wie zahlreiche Straßen an der russisch-ukrainischen Grenze plötzlich “gesperrt” waren.

Was auf Google Maps wie ein “Stau” aussah, war der Angriff des russischen Militärs auf die Ukraine. GPS-Systeme dokumentieren live, was früher auf Karten erst neu gezeichnet und gedruckt werden musste: die Verschiebung von Grenzen - geographischer, politischer und moralischer Grenzen.

Landkarten sind daher politische Dokumente und der Versuch, einmal erlangte Macht zu zementieren. Länder oder Organisationen nutzen geografische Informationen, wie Grenzen, um ihre politischen Ansichten zu einem bestimmten Thema auszudrücken, also Fakten zu schaffen. Wenn sich beispielsweise zwei Länder um ein bestimmtes Gebiet streiten, können sie unterschiedliche Versionen derselben Karte mit widersprüchlichen Ansprüchen darauf erstellen, wem welches Gebiet gehört. Diese Karten werden dann von Regierungen als Propagandamittel eingesetzt, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen. 

Genau das erleben wir seit der bewaffneten Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim durch das russische Militär im Frühjahr 2014 - eine dauerhafte Grenzüberschreitung. In den Friedensverhandlungen zwischen der Ukraine, Russland, Frankreich und Deutschland wurden danach zwar ein Waffenstillstand und Autonomie für den ukrainischen Donbas erzielt. Verhandlungen über die Krim verweigerte Russland. Man muss keine Zynikerin sein, um den Ukrainekrieg als nahezu logische Folge zu betrachten. Eine Grenzüberschreitung kommt selten allein.

Der deutsch-amerikanische Theologe und Philosoph Paul Tillich hat 1962 zum Erhalt des Friedenspreis des Deutschen Buchhandels eine bemerkenswerte Dankesrede gehalten. Tillich sprach über das Dasein und Wesen der “Grenzen” und sagte: “Wenn das Überschreiten und Rücküberschreiten der Grenze der Weg zum Frieden ist, dann ist die Angst vor dem, was jenseits liegt, und der daraus geborene Wille, es zu beseitigen, die Wurzel des Unfriedens und der Kriege.” Tillich argumentierte weiter: “Die Aggression des Fanatikers ist die Folge seiner Schwäche, seiner Angst, die eigene Grenze zu überschreiten, und seiner Unfähigkeit, das, was er in sich selbst unterdrückt hat, im anderen verwirklicht zu sehen.” 

Panzerlieferungen: Vor wenigen Monaten noch unvorstellbar


Nichts gegen die Grenzen zwischen unterschiedlichen Positionen an sich. Alle Formen der menschlichen Existenz erwachsen aus einer gewissen Grenzziehung zwischen Alternativen. Wer wäre ich ohne ein du, was wäre der Tag ohne die Nacht, die Helligkeit ohne das Dunkel und das Glück ohne das Unglück? Ohne Unterschiede, die einen Unterschied machen, wie es der britisch-amerikanische Anthropologe Gregory Bateson einst beschrieben hat, wären wir nicht in der Lage, unsere Welt wahrzunehmen und zu interpretieren. Auch Identität entsteht aus Differenz.

Schwierig wird es allerdings, wenn diese Differenz zur Ideologie wird, wie Tillich beschreibt. Demokratie ist für den autoritären Fanatiker ebenso bedrohlich wie Meinungsfreiheit für den hörigen Propagandisten. Den Grenzüberschreitungen von Extremisten muss man Einhalt gebieten. Sie lassen sonst die Grenze zwischen der Unterscheidung und der Diskriminierung bis zur Vernichtung verwischen.

Die deutsche Bundesregierung hat dies gemeinsam mit der US-Regierung in der vergangenen Woche getan. Die Lieferung von Leopoard2 und M1 Abram Tanks an die Ukraine ist ein wichtiger Schritt, um Wladimir Putin nach zahlreichen Überschreitungen eine Grenze aufzuzeigen: „Wir lassen nicht zu, dass ein europäischer Nachbarstaat heute mit Waffengewalt angegriffen und einverleibt wird.“

Für die deutsche Verteidigungspolitik ist das eine Grenzüberschreitung. Noch vor wenigen Monaten wäre ein solcher Schritt unvorstellbar gewesen. Es ist richtig, dass darüber ausführlich diskutiert wird. Und sicherlich hätte die Bundesregierung an manchen Stellen klüger kommunizieren können.

Das Leben zieht alle Grenzen jeden Tag neu


Aber alle die Hobbygeneräle in den Redaktionen deutschsprachiger Zeitungen, die so viel bestimmter, schneller, selbstbewusster und effizienter entschieden hätten, machen sich die Sache sehr einfach. Ihr bellizistisches Gefasel ist gefährlich. Wie sähen deren Reaktionen wohl aus, wenn Putin in seinem autoritären Selbsterhaltungswahn doch mal strategische Atomwaffen zum Einsatz bringt, ohne dass ein enger deutsch-amerikanischer Schulterschluss klar zeigt: Er kann keinen Keil zwischen die Nato-Staaten treiben. 

Für alle, die es sich so gerne einfach machen bei so schwierigen Grenzziehungen, hat der polnisch-amerikanische Philosoph Alfred Korzybski einen Satz geprägt: “Die Landkarte ist nicht die Landschaft” (“a map is not the territory”). Keine Karte kann abbilden, was es bedeutet, sich in die wüste Landschaft des Krieges zu begeben, und man tut gut daran, darüber im Vorfeld ausgiebig nachzudenken. Ein falscher Zug ist auf der Karte egal, in der Fläche womöglich tödlich. 

Man kann daher auch nicht alte Karten sammeln, um an einem vergangenen Status quo festzuhalten. Das Leben zieht alle Grenzen jeden Tag neu - auf Google Maps und in der Wirklichkeit.

Titelbild: Unsplash

 

Miriam Meckel

Miriam Meckel ist Mitgründerin und Geschäftsführerin von ada und Professorin für Kommunikationsmanagement an der Universität St. Gallen, Schweiz. In dieser Kolumne schreibt sie alle zwei Wochen über Ideen, Innovationen und Interpretationen, die Fortschritt bringen und unser Leben verbessern. Denn was die Raupe das Ende der Welt nennt, nennt der Rest der Welt einen Schmetterling.

Diese Kolumne erscheint sowohl beim Handelsblatt als auch bei uns.

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