Mit einmaliger Rasanz ist die E-Sport-Branche in China an die Weltspitze geklettert. Nach dem vielleicht strengsten Online-Gaming-Verbot der Welt steht die Branche vor dem Aus.
Wer sich die schiere Dimension des chinesischen E-Sport-Booms vor Augen führen will, sollte einmal in den Minhang-Bezirk nach Shanghai kommen. Dort erfolgte zu Beginn des Jahres der erste Spatenstich für ein Bauprojekt, das allein in seiner ersten Entwicklungsstufe rund 900 Millionen Dollar verschlingen wird: eine E-Sport-Arena mit über 6.000 Zuschauerplätzen, ein angeschlossenes Fünf-Sterne-E-Sport-Hotel sowie ein E-Sport-Museum. Zudem sollen sich auf dem 500.000 Quadratmeter großen Gelände hunderte heimische und ausländische Branchenvertreter:innen ansiedeln.
All dies schien noch vor kurzem wie eine sichere Wette auf eine rosige wirtschaftliche Zukunft: Laut einer Studie des chinesischen Marktforschungsinstituts iResearch hat sich der E-Sport-Markt in China allein zwischen 2017 und 2020 verdoppelt. Knapp 20 Milliarden betrug er 2020. Doch nun steht die Industrie vor einer existenziellen Krise.
Ende August haben die Aufsichtsbehörden der Volksrepublik das vielleicht strengste Online-Gaming-Verbot weltweit eingeführt. Jugendliche in China dürfen künftig nur mehr drei Stunden pro Woche im Internet zocken, jeweils von Freitag bis Sonntag zwischen acht und neun Uhr. Dass das Gesetz auch kontrolliert wird, dafür sorgt eine Registrierungspflicht per Personalausweis.
Der Staat als Spielverderber: Was angesichts weit verbreiteter Internetsucht durchaus gut gemeint sein könnte, ist für die E-Sport-Branche eine regelrechte Hiobsbotschaft. Schließlich ist das professionelle Zocken ein Leistungssport wie jeder andere auch: Wer internationales Wettbewerbsniveau erreichen will, muss schon von früh an hart trainieren.
„Man muss E-Sport ähnlich sehen wie jede andere Sportart“, sagte der deutsche League of Legends-Coach Maurice Stückenschneider jüngst der Financial Times: „Spieler können 70 Stunden pro Woche oder mehr trainieren. Es wird für chinesische Nachwuchsspieler einfach unmöglich sein, ein hohes Niveau zu halten.“
China als Mekka der Spielebranche
Während meiner Zeit als Journalist in Südkorea habe ich schon sehr früh mitbekommen, dass E-Sport weit mehr als nur die leidenschaftliche Nische einer kleinen Szene ist, sondern vor allem ein riesiges Geschäft. In Seoul gab es bereits seit den 2000er Jahren eigene E-Sport-Fernsehsender, E-Sport-Arenen mit tausenden Zuschauer:innen und von großen Unternehmen gesponserte E-Sport-Teamhäuser, in denen die stärksten Athlet:innen wie im Bootcamp lebten.
Als ich der Einweihung eines weltweit ersten E-Sport-Museums beiwohnte, lud das Kulturministerium wie selbstverständlich die Auslandskorrespondent:innen dazu ein: Professionelles Computerspielen ist in Südkorea Staatsangelegenheit und nationaler Stolz.
Doch spätestens im November 2018 wurde mir klar, dass Südkorea als Mekka des E-Sports unweigerlich vom großen Nachbarn in den Schatten gestellt wird. Als das Finale der League of Legends (LoL)-Weltmeisterschaften in einem riesigen Fußballstadion in Incheon mit 26.000 Zuschauer:innen ausgetragen wurde, redeten die Journalist:innen und Kommentator:innen mit funkelnden Augen von den aberwitzigen Investitionssummen, die die Chines:innen in das professionelle Computerzocken investieren.
„In Sachen Spielergehälter und Investorengeldern ist China längst an Korea vorbeigezogen“, sagte mir schon damals der französische E-Sport-Journalist Timo Verdeil, als wir in der Novemberkälte auf die Pressekonferenz des Siegerteams warteten. Verdeil sprach von einem Paradigmenwechsel. Und die Statistiken am nächsten Morgen gaben ihm recht: Über 205 Millionen Zuschauer:innen aus China haben das Finale im Internet verfolgt – davon 203 Millionen User aus China.
Dementsprechend erpicht war ich darauf, den Siegeszug der Branche in China zu begleiten. Doch bei den LoL-Weltmeisterschaften in Shanghai im Sommer 2020 wurde meine Akkreditierung vor Ort abgelehnt, genau wie die meisten Spieleentwickler nicht mit ausländischen Journalist:innen sprechen wollten. Und als im Juni dieses Jahres endlich mit Migu ein Produzent von mobilen Spielen seine Pforten öffnete, zeigte mir das Unternehmen zwar sämtliche Gadgets vom firmeneigenen 5G-Showroom bis hin zur Caféteria, die von einem einarmigen Barista-Roboter betrieben wird. Doch Fragen zum E-Sport-Team waren absolut tabu.
Zu jenem Zeitpunkt war das Online-Gaming-Verbot allerhöchstens ein Gerücht. Doch schon damals sah ich auf allen Ebenen, wie nervös die Branche ist. Offensichtlich steht sie schon seit längerem im Visier der Behörden. Denn in China, wo sich der Staat immer stärker auch ins Privatleben der Menschen eingreift, betrachtet die Regierung ihre Gaming-Branche vor allem als soziales Übel.
Mit der Neuregelung jedenfalls steht die gesamte E-Sport-Branche vor dem Aus. Denn wie in anderen Disziplinen auch haben professionelle Computerspiele eine Halbwertszeit: Mit Mitte zwanzig ist man in aller Regel bereits über dem Zenit, Gamer:innen über 30 sind die absolute Ausnahme. Das hat vor allem mit den blitzschnellen Reaktionszeiten zu tun, die bei den meisten Spielen das entscheidende Kriterium für Erfolg sind.
Mit VPN-Zugang lässt sich das Gaming-Verbot umgehen
Die chinesischen Teams müssen nun also ihre Nachwuchsförderung de facto komplett einstellen. Dabei hat das Land an sich den mit Abstand größten Talentpool: Von den rund 1,4 Milliarden Chines:innen sollen laut dem Marktforschungsinstitut Newzoo 720 Millionen regelmäßig Videospiele zocken, und pro Alterskohorte werden es mehr. Die neue Dominanz sollte erstmals so richtig bei den Asienspielen 2022 unter Beweis gestellt werden: E-Sport debütiert dort als Medailliendisziplin.
Noch überwiegt der Schock innerhalb der Branche – keine gute Zeit, um als westlicher Journalist Interviews zu dem sensiblen Thema zu bekommen. Doch es ist ein offenes Geheimnis, dass man sich bislang mit Schlupflöchern über Wasser zu halten versucht: Bei einigen Spielen ist es nach wie vor möglich, dass sich minderjährige Gamer:innen die Accounts von älteren Spieler:innen ausborgen können. Doch es ist nur eine Frage der Zeit, bis sämtliche Anbieter mit integrierter Gesichtserkennungssoftware genau überprüfen, wer genau da hinter dem Rechner sitzt.
Allerdings muss es nicht zwingend zum Aus der heimischen E-Sport-Branche kommen. Zwar ist der chinesische Staat einerseits ein regelrechter Kontrollfreak. Andererseits zeigt er sich auch stets pragmatisch, wenn es um wirtschaftliche Interessen geht. Offiziell zum Beispiel sind die Plattformen Instagram und Facebook in China wegen ihrer freien Informationen streng verboten. Doch für chinesische Live-Streamer:innen, die auf dem ausländischen Markt ihre Produkte online verkaufen, genehmigt die Regierung höchstoffiziell einen – an sich verbotenen – VPN-Zugang, mit dem man die Zensur umgehen kann. Möglicherweise wird sie dies auch für die vielversprechendsten E-Sport-Talente tun.
Wenn nicht, dann werden sich die minderjährigen Computerspieler:innen künftig einen anderen Berufswunsch aussuchen müssen – und die chinesischen Fans wohl vor allem ausländische Teams anfeuern, da die eigenen nur mehr zweitklassig spielen werden.
Im Grunde wäre die Situation dann wie beim Fußball: Während die chinesischen Super League-Teams nur eingefleischte Fans begeistern, feuern die Massen lieber Manchester City oder Bayern München an. Der Leidenschaft der Chines:innen für Fußball tut dies dennoch keinen Abbruch.
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