Eine eigenständige Rolle Europas in der digitalen Weltpolitik ist möglich und nötig. Dafür braucht es marktfähige Technik, digitale Grundrechte und ein neues Verhältnis von Markt und Staat.
Technologie ist immer politisch. Und genauso oft ökonomisch getrieben. Weswegen sich nun in einem Vorort von München und in einem Örtchen irgendwo zwischen Stuttgart und Reutlingen zwei Dramen abspielen. An dem einen Ort sitzt die Firma Siltronic, die Halbleiter herstellt. An dem anderen Ort ist das Unternehmen Dialog Semiconductor herangewachsen, das ebenfalls Halbleiter herstellt. Die ersteren brauchen vor allem Unternehmen und Forschende aus der Mikro- und Nanotechnologie, die zweiteren vor allem Mobilfunkanbieter und Autohersteller. Die Mehrheit an Siltronic kaufte aber nun ein taiwanesischer Anbieter, die Mehrheit an Dialog Semiconductor ein japanisches Unternehmen. So weit. So Wirtschaft.
Nur: Die beiden Unternehmen waren zwei der letzten Produzenten von Halbleitern, die überhaupt noch in Europa herstellen. Und die Kontrolle über sie wandert nun nach Asien. Das in einer Zeit, in der nicht nur Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) 50 Milliarden Euro in den Erhalt der europäischen Chip-Industrie investieren will, sondern in der die Ausgangspositionen für die nächste Stufe der digitalen Wirtschaft austariert werden. Und für diese sind smarte Chips eine der technologischen Grundlagen.
Das haben sie gemein mit smarten Speichersystemen, wie sie Cloud-Anbieter vorhalten. Die Nachfrage aus europäischen Unternehmen danach steigt. Ebenso die Rufe nach entsprechender Technologie aus Europa. Die Kontrolle über die Technik aber wandert immer weiter in die USA und nach Asien. Der größte europäische Anbieter, die Deutsche Telekom, kommt weit abgeschlagen hinter Amazon, Microsoft, Alibaba, IBM und Google gerade mal auf zwei Prozent Marktanteil. In Europa wohlgemerkt, nicht weltweit.
Und während Europas Politik versucht, das Dilemma durch eine öffentlich errichtete, europäische Cloud namens Gaia-X zu beheben, an der sie wiederum auch US-Anbieter beteiligt, schaffen andere weiter Fakten: US-Cloud-Anbieter haben allein von Oktober 2019 bis Oktober 2020 gut zwölf Milliarden Euro in Infrastruktur und technologisches Know-How aus Europa investiert. Das waren nicht nur 20 Prozent mehr als im Vorjahr, sondern vor allem deutlich mehr als alle europäisch kontrollierten Unternehmen zusammen.
Das alles steht in einem seltsamen Widerspruch zur politischen Großerzählung. „Wir wollen, dass wir in den Schlüsseltechnologien auf den Weltmärkten mitspielen können“, formuliert etwa der deutsche Wirtschaftsminister Peter Altmaier den technologischen Anspruch des Landes. Und der europäische Binnenmarktkommissar Thierry Breton – eine:r von mehreren Kommissar:innen mit Zuständigkeit für digitale Themen – sagt: „Wir müssen ehrgeizige Pläne aufstellen mit dem Ziel, in unseren wichtigsten Wertschöpfungsketten führend zu sein.“ Nicht nur Jan-Peter Kleinhans, der bei der Stiftung Neue Verantwortung den Bereich Technologie-Geopolitik leitet, urteilt: „Die Kluft zwischen dem politischen Narrativ und der Realität in der Industrie könnte nicht größer sein.“
Tatsächlich ist es ja so: die erste Runde der Digitalisierung, als hauptsächlich amerikanische, später dann auch chinesische Konzerne begannen, viele Geschäftsmodelle rund um private Kund:innen über das Internet zu organisieren, haben Europas Unternehmen im Großen und Ganzen verschlafen. Soweit herrscht Konsens.
Daraus leitete sich allerdings ein weiterer Konsens in Deutschland und Europa ab: es gäbe eine nächste Runde, nämlich die Digitalisierung von Industriegeschäftsmodellen. Und da habe Europa alle Chancen, den Rückstand auf die USA und China wieder aufzuholen, ja gar die Verhältnisse umzudrehen. Dafür müsse es nur seine industriellen Stärken aus der Vergangenheit nutzen, seine hochwertige Forschung besser in Geschäftsmodelle ummünzen und vielleicht noch, da ist der Konsens aber schon nicht mehr ganz so groß, die Bedingungen für Tech-Investoren lockern und seine eigene, europäische Werteordnung einfach tapfer genug gegen amerikanische und chinesische Konzerne verteidigen.
Mittlerweile spricht einiges dafür, dass das nicht reichen wird. Das liegt im Wesentlichen an drei Punkten: Es gibt keine Unterteilung in ein Consumer-Internet und ein industrielles Internet mehr – vielmehr haben die großen Netzkonzerne über Jahre Milliarden von Nutzer:innendaten gesammelt, die nun die Grundlage für die industrielle Weiterentwicklung ihrer Geschäftsmodelle bilden. Es gibt ebenfalls keine Arbeitsteilung, in der die einen die Internet-Hardware liefern und die anderen dann Werte für den Umgang damit vorgeben – wer die Infrastruktur stellt, setzt auch die Regeln. Vor allem aber: Die USA und China haben strategische Gesamtkonzepte für die technologische Entwicklung erstellt, denen sich auch Fragen wie Wirtschaftspolitik, Außenpolitik und das Verhältnis von Staat und Markt unterzuordnen haben.
Die nächsten technologischen Umbrüche
Dass diese drei Punkte so mächtig wirken, hängt mit der technologischen Entwicklung zusammen. Die Infrastruktur für die nächste Stufe der Digitalisierung hat relativ wenig mit der der ersten Phase des Internets, die in diesen Jahren ausläuft, zu tun. Es gibt vier Felder, auf denen der digitale Kapitalismus des 21. Jahrhunderts stattfindet:
- Datenverarbeitung durch Quantencomputer
- Dateninterpretation durch maschinelles Lernen oder neuromorphe Systeme, die das menschliche Hirn nachahmen
- Datensicherung durch neue Speicherverfahren
- Datentransport über neue Übertragungswege wie 6G oder Satelliten-Internet.
Im Vergleich zur ersten Phase der Digitalisierung, als der eine sich auf Halbleiter spezialisierte, die andere auf Software und das Dritte auf Kabelnetze oder Rechenzentren, hängen nun alle Schlüsseltechnologien stärker voneinander ab: Quantencomputing bietet erst die Möglichkeiten, mit denen Maschinen wirklich intelligent und schnell handeln können. In neuen Cloudystemen können Daten erst so smart deponiert werden, dass Algorithmen daraus wirklich gute Schlüsse ziehen können, nur 6G oder das Satelliteninternet schaffen die Funkkapazitäten, die dann wieder intelligent gesteuerte Maschinen in allen Weltgegenden erreichen.
Wie alles miteinander zusammenhängt, lässt sich derzeit in der Nähe von Stuttgart beobachten. In Ehningen hat der US-Computerkonzern IBM seinen Deutschlandsitz. Seit Anfang des Jahres arbeitet dort ein neuer Super-Rechner, IBM Q System One. Ein Quantencomputer. Dort testen Forscher:innen unter anderem die Modellierung von Batterien und Brennstoffzellen, Stabilitätsanalysen kritischer Infrastrukturnetzwerke sowie Anwendungen und Algorithmen für Fertigung, Entwicklung, Logistik, Energie, Banken und Börsen.
Ein Quantencomputer von IBM auf der CES 2018 in Las Vegas. Foto: Imago Images / UPI Photo
Warum es diese Versuche mit neuen Rechnern braucht? Weltweit betrug nach Angaben des Statistischen Bundesamtes noch im Jahr 2018 das Volumen der jährlich generierten digitalen Datenmenge 33 Zettabyte. Für das Jahr 2025 prognostizieren die Statistiker:innen mehr als 175 Zettabytes. Das ist eine 175 mit 21 Nullen. Als nächste und letzte Einheit ist bisher nur das Yottabyte vorgesehen. Und darauf bewegt sich unsere digitale Gesellschaft kontinuierlich zu.
Die Flut an Daten ist nicht die einzige Herausforderung. Mit wachsender Abhängigkeit von digitalen Netzen und Daten steigen die Anforderungen an die Sicherheit und Resilienz der digitalen Gesellschaft. „Die Antwort auf diese Herausforderungen ist die Entwicklung vertrauenswürdiger, hochperformanter und ressourceneffizienter Hard- und Software“, sagt Albert Heuberger, Leiter des Fraunhofer-Instituts Erlangen. Zusammen mit seiner Kollegin Anita Schöbel aus Kaiserslautern verantwortet er das Thema Next Generation Computing. Eine zentrale Rolle dabei spielen die drei Schlüsseltechnologien: neuromorphe Hardware, Trusted Computing und Quantencomputing.
Und diese neuen Technologien werden komplementär als Beschleuniger und für bestimmte Fragestellungen in bestehenden Computern eingesetzt. So wird auf neuromorphe Hardware zurückgegriffen, um energieeffizient neuronale Netze für die künstliche Intelligenz auszuführen. Für Simulations- und Optimierungsprozesse kommen dann Quantenprozessoren zum Zuge. Oder, anders formuliert: alles greift in Zukunft ineinander.
Während Europa in diesen Dingen aber vor allem forschend vorne mit dabei ist, kommerzialisieren Unternehmen in anderen Weltgegenden sie schon. Amazon, Alibaba, Alphabet oder Apple: alle diese Konzerne betreiben Konzernsparten in fast allen diesen Feldern. Und sie entwickeln sie, so viel steht fest, strategisch und in der Absicht, daraus Vorteile zu erzielen.
Der Mythos des Soft-Power
Womit wir bei Roland Busch wären. Der ist seit Anfang des Jahres Vorstandschef einer der größten deutschen Industriekonzerne, Siemens. Und wenn man seinen Äußerungen seitdem so folgt, könnte man meinen: Roland Busch ist eigentlich ganz zufrieden. Als er Anfang April sein erstes großes Interview gab, sagte Busch: „Wir sind besser unterwegs, als viele denken. Auf dem Feld der Digitalisierung von Geschäftsprozessen und der Industrie sind die Europäer sogar weltweit führend.“Siemens-CEO Roland Busch. Foto: Getty
Dass einige amerikanische oder chinesische Konzerne in Schlüssel-Zukunftstechnologien marktfähiger seien, sorge ihn nicht. „Die Technologiekonzerne sind in vielen Feldern eher Partner, keine Wettbewerber. Die Welt ist hier nicht schwarz oder weiß“, sagt Busch. Er sehe auch nicht, dass die großen Datenkonglomerate Kompetenzen entwickeln könnten, die die klassische Industrie abhängen. „Der Datenexperte erkennt nur, dass etwas nicht funktioniert. Um zu sagen, was tatsächlich getan werden muss, brauchen Sie tiefes Domain-Know-How. Damit tun sich die IT-Konzerne schwer.“
Und sollte man doch am Markt den Anschluss verlieren, weil technologisch alles ineinandergreife? Dann könne Europa über geeignete Gesetze ja immer noch regeln, dass die Nutzung amerikanische IT-Infrastruktur nicht auch zum Abfluss von Daten führe.
Das erinnert an den bisherigen Umgang der Europäischen Union mit den großen Datenkonzernen von anderen Kontinenten: Weil Europa denen ökonomisch relativ wenig entgegensetzte, versucht man es über Regeln und Marktdesign. Europäische Gestalter:innen erinnern dann gerne zum Beleg an die europäische Datenschutzgrundverordnung. Diese habe vor drei Jahren einen kulturellen Akzent Europas gegen die ökonomische Dominanz der USA gesetzt und präge damit die Netzökonomie der Zukunft viel mehr als jedes Geschäftsmodell.
Nur stimmt das auch?
Fakt ist: Bisher hat keine andere Weltregion ähnliche Regeln umgesetzt. Und was spricht eigentlich dafür, dass sich technologische Infrastruktur und Gestaltungsmacht künftig unabhängig voneinander entwickeln?
Von China lernen?
Das fragt sich auch Fabian von Heimburg, ein deutscher Unternehmer, der seit 2014 eine Digitalfirma in China betreibt. Zusammen mit einem Kommilitonen aus Universitätszeiten gründete er damals Hotnest. Das Unternehmen wertet aus, was chinesische Kund:innen bewegt. Aus dem Onlineverhalten von Milliarden Chines:innen generiert die Firma Echtzeitdaten über deren Vorlieben und Interessen. Auf der Hotnest-Plattform können Firmen Produkte launchen, ihre Logistik organisieren und Waren verkaufen.
Vor einigen Monaten hat von Heimburg eine deutsche Dependance seines Unternehmens gestartet. Fragt man ihn heute, wie er die Lage Deutschlands und Europas in der digitalen Welt sieht, seufzt er zunächst – um dann eine kleine Wutrede zu starten. „Europa ist extrem naiv“, sagt von Heimburg. Es fallen dann weitere Schlagworte wie „Ignoranz“ oder „kein Selbstbewusstsein“ in technologischen Fragen. „Wenn Europa seine starken Werte in die Welt bringen will, geht das über ein starkes System. Aber die Werte alleine werden sich nicht durchsetzen ohne wirtschaftliche und technologische Kraft dahinter“, sagt von Heimburg.
Natürlich, wenn er die technologischen Grundlagen zwischen China und Deutschland vergleicht, dann findet er, dass es da durchaus Chancen gibt. „Europa ist stark in der Wissenschaft“, sagt von Heimburg. „Es gibt auch gute Start-ups im Bereich Quantencomputing, die können im Prinzip in Sachen Skalierung mit den USA oder China mithalten. Aber obwohl sie technologisch oft sogar besser sind, weiß ich nicht, ob sie sich am Ende durchsetzen.“ Und das liegt seiner Ansicht daran, dass es kein Gesamtkonzept in Europa gibt. „China hat regelrecht ein Ökosystem aufgebaut“, sagt von Heimburg. „Und das hat es so lange geschützt, wie die Unternehmen brauchten, um groß zu werden. Und in den USA ist es doch genauso: Es ist ja nicht so, dass die einfach nur das bessere Angebot haben, das sich dann im freien Wettbewerb durchsetzt.“
Keines der 10 wertvollsten Start-ups sitzt in Europa.
Folgt man dieser Logik, hätte China im Prinzip den Ansatz kopiert, mit dem auch die USA ihren Tech-Sektor groß machten. Man fördert über staatliche Anreize und intelligente Regeln, etwa für Risikokapital oder Datennutzung, ein Tech-Ökosystem. Dieses schützt man über Marktregulierung gegen Konkurrenz von außen, bis sich einige 100-Milliarden-Dollar-Konzerne herauskristallisieren. Dann, und erst dann, gibt man den Markt frei.
Oder anders gesagt: Die Menschen bei Fraunhofer oder Max-Planck, die derzeit an Quantencomupting, Neuromorphic Computing oder Trusted Computing forschen, können das noch so gut tun. Solange sie dann für den Praxistest wieder zu IBM nach Ehningen müssen, wird sich an der Vormacht der USA oder Chinas wenig ändern.
„Europa muss sich von veralteten Dogmen der Wirtschaftspolitik lösen“, sagt von Heimburg. „Es muss ausländische Firmen gleichzeitig viel stärker einschränken. Das ist nicht protektionistisch, das passiert in anderen Marktbereichen ja auch.“ Airbus etwa wurde nur so groß, weil man die Flugzeugindustrie in Europa nicht dem freien Markt überließ, sondern gezielt etwa den US-Konkurrenten Boeing aussperrte. Warum sollte in der Luftfahrt gehen, was im Tech-Bereich nicht geht?
Geo-Politik, Geo-Ökonomie – Geo-Dataismus?
Greift man diesen Gedanken auf und denkt ihn zu Ende, ergibt sich ein neues Bild von Tech-Politik. So wie Europas Länder in den Neunzigerjahren in der Geopolitik und in den Nuller-Jahren in der Geo-Ökonomie versuchten, ihre Interessen in der Welt möglichst vereint und robust wahrzunehmen, braucht es jetzt einen Geo-Dataismus: eine umfassende, strategische Herangehensweise an die Digitalisierung von Wirtschaft und Staaten. Dazu gehört eine starke Förderung der bestehenden Technologien in Richtung marktgängiger Geschäftsmodelle, dazu gehört der beherzte Einsatz für gleichermaßen Technologie- wie Datensouveränität, dazu gehört eine Digital-Infrastruktur, die von Europas Staaten gemäß ihrer Interessen und nicht durch das Klein-Klein privater Mini-Wettbewerber gestaltet und ausgebaut wird, und dazu gehört ein Marktdesign, das technologische und wirtschaftliche Interessen anstatt überkommener ordoliberaler Vorstellungen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verteidigt.
Das klingt aus europäischer Perspektive zugegeben wie eine Utopie. Aus amerikanischer und chinesischer Perspektive aber lediglich so, als schaue man sich die erfolgreichen Konzepte dieser beiden Regionen ab. China-Fachmann von Heimburg ist da zuversichtlich: „Es ist nicht zu spät.“ Man müsste nur anfangen.
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