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  • 18.02.2022
  • Miriam Meckel

Das Unicorn wird ein Herdentier

Die Zahl der Einhörner wächst. Europas Start-ups haben beste Voraussetzungen, global erfolgreich zu sein, wenn sie auf eigene Geschäftsmodelle setzen.

Mit zehn Milliarden Euro wollen Deutschland und Frankreich über einen gemeinsamen Fonds die europäische Gründerszene fördern - so verkündeten es die beiden Länder vor wenigen Tagen in Paris. Es soll mehr europäisches Geld in europäische Start-ups fließen. Schließlich will man die größten Stücke des Kuchens nicht immer wieder US-Investoren überlassen. Ein richtiger Schritt, aber immer noch zu zögerlich gemessen an dem, was in US-Risikokapitalkreisen derzeit diskutiert wird.

Danach hat Europa gute Chancen auf die Rolle als neuer Shootingstar am KI-Himmel. Noch haben wir auf dem Kontinent deutlich weniger Unicorns zu bieten als die USA oder China, aber die Kurve zeigt nach oben. Vor fünf Jahren gab es keine fünf Unternehmen, denen es gelang, die symbolische Bewertungsgrenze von einer Milliarde Euro zu überschreiten, inzwischen sind es 49. Einige dieser Unternehmen sind nicht mehr vom globalen Markt wegzudenken.

Das schwedische Spotify ist (trotz oder auch wegen Joe Rogan) Weltmarktführer im Musikstreaming, das Unternehmen Klarna, ebenfalls schwedisch, führend in Ratenzahlungsdiensten, das niederländische Unternehmen ASML globaler Spitzenreiter in Lithografiesystemen für die Halbleiterindustrie. Auf diese Erfolge lässt sich aufbauen: 115 Milliarden Dollar Kapital sind im vergangenen Jahr in europäische Start-ups geflossen, deutlich mehr als die gut 43 Milliarden, die es 2020 noch waren.

Sequoia Capital, einer der Hauptfinanzierer von Risikokapital für Tech-Start-ups mit Sitz im Silicon Valley, hat Morgenluft geschnuppert. Europa könne in Sachen Gründungsboom bald vom Zuschauer zum Angreifer werden, heißt es in einem Memo, das in VC-Kreisen kursiert. Die Finanzierer stimmt nicht nur optimistisch, dass die Gattung des Einhorns in Europa vom Einzel- zum Herdentier mutiert.

Der Kontinent verfügt über ein paar Ressourcen, die dringend gebraucht werden. Dabei geht es nicht um Geld. Risikokapitalgeber rennen selbst windigen Start-ups derzeit hinterher wie Kleinkinder bunt in der Sonne glitzernden Seifenblasen. Es wird Zeit für mehr Substanz.

Europa hat viel von dem, was derzeit alle suchen. Das ist zum einen das Wissenskapital: Drei der fünf weltweit besten Informatikstudiengänge werden in Cambridge, Oxford und Zürich angeboten. Zum Zweiten das Humankapital: Mit fast sechs Millionen verfügbaren Entwicklern verfügt Europa über einen größeren Talentpool als die USA. Und zum Dritten bietet der Kontinent die Diversität, die anderen Regionen inzwischen fehlt. Seit wann interessiert denn ausgerechnet VC-Firmen das Thema Diversität? Dann, wenn es ökonomischen Erfolg verspricht.

Wie der aussehen kann, hat der US-Soziologe und -Ökonom Mark Granovetter schon 1973 beschrieben. Granovetter setzte in der Analyse erfolgreicher Netzwerke nicht auf die starken, sondern auf die schwachen Verbindungen. Es sind nicht unbedingt die großen Überschneidungen und intensiven Beziehungen in Ökosystemen, die zum Erfolg beitragen. Oft sind es genau die Verbindungen, die man als unbedeutend außer Acht zu lassen droht. Sie entscheiden wesentlich über Informationsfluss und Innovationskraft.

Es hätte andere Regionen der USA gegeben, in denen die Tech-Branche hätte blühen können, rund um Boston an der Ostküste zum Beispiel. Doch während dort große, vertikal integrierte Unternehmen stetig eine einmal gespurte Strategie verfolgten und neue Ideen wie in einer Lehmschicht versinken ließen, brodelte das Silicon Valley mit einer wachsenden Zahl kleiner, agiler Start-ups Richtung Siedepunkt. Inzwischen sind die Kleinen im Valley groß geworden und leiden unter denselben Problemen, die auch andere Branchen auf Sättigungskurs befallen.

Die Zeichen für Europa stehen also gut. Aufgrund der beeindruckenden industriellen Tradition Europas haben vor allem Start-ups in zukunftsorientierten Technologiefeldern, wie KI, Robotics und Quantumcomputing, hervorragende Voraussetzungen, global erfolgreich zu werden. Wenn sie sich dann mal mehr trauen als die x-te Kopie von ein und demselben Geschäftsmodell.

Gesucht werden also nicht die Delivery Heroes des schon Bekannten, die Ausbeuter einer Ökonomie der Bequemlichkeit, die mit überzogenen Bewertungen auf die nächste Blase zusteuern. Gesucht werden die heldenhaften Start-ups einer echten Disruption.

Sie könnten heute für die Zukunft Geschichte schreiben, indem sie Innovationskraft und Nachhaltigkeit verbinden und damit fast organisch an der Diversifizierung der Tech-Branche mitarbeiten. Die beste Alternative zu Big Tech aus dem Silicon Valley ist eine blühende Small-Tech-Szene Europas. Dafür braucht es mehr europäisches Risikokapital. Es wird sich auszahlen.

Miriam Meckel

Miriam Meckel ist Mitgründerin und Geschäftsführerin von ada und Professorin für Kommunikationsmanagement an der Universität St. Gallen, Schweiz. In dieser Kolumne schreibt sie alle zwei Wochen über Ideen, Innovationen und Interpretationen, die Fortschritt bringen und unser Leben verbessern. Denn was die Raupe das Ende der Welt nennt, nennt der Rest der Welt einen Schmetterling.

Diese Kolumne erscheint sowohl beim Handelsblatt als auch bei uns. 

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