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  • 28.12.2021
  • Miriam Meckel

Club der lebenden Romantiker

Was wir in Deutschland dieser Tage erleben, ist eine Rückwärtsdisruption.

"Und die Welt hebt an zu singen, triffst du nur das Zauberwort", so dichtete Joseph von Eichendorff 1835. Das Gedicht huldigt nicht nur dem Wort als zauberkräftiger "Wünschelrute", sondern auch ganz generell den Vorstellungen der Romantik. Träumerisch fantasievoll gleiten wir in den Raum des Unbewussten, in dem die Vereinigung von Mensch und Natur gegen alle Kräfte der Vernunft und ihre konkreten Formen der Industrialisierung und Technologie gelingen kann.

Das Zauberwort von heute heißt "impfen". Es klingt als ganz besonderer Gesang durch die Straßen. Am vergangenen Wochenende in Düsseldorf und vielen anderen deutschen Städten gebrüllt von denen, die sich ihrer Freiheit und Natürlichkeit beraubt sehen durch den Fortschritt der Biotechnologie.

mRNA - das ist für die Skandierenden das Entzauberungswort der Technobürokratie. In ihm steckt die Bedrohung aller Vorstellungen von den natürlichen Selbstheilungskräften des menschlichen Körpers. Es symbolisiert den Einzug des industriellen technischen Fortschritts ins letzte Refugium der Selbstbestimmung, die menschliche Zelle.

Diese Haltung ist auch verankert in den Tiefen der deutschen Kulturgeschichte, in der die Romantik als Epoche der Abkehr von ebendiesem Fortschritt eine Bedeutung hatte, die noch heute in unsere Gegenwart strahlt. Kein anderes Land fühlt sich so zu den Vorstellungen der europäischen romantischen Bewegung hingezogen wie Deutschland.

Das zeigt sich besonders an der anthroposophischen Bewegung des Rudolf Steiner: Kindergärten, Schulen, die biologisch-dynamische Landwirtschaft, die Naturheilkunde, all das geht auf Steiner zurück. Auch die Kosmetikfirma Weleda wurde von Steiner mitbegründet.

Man versuche, durch Vernunft das im Zaum zu halten, was die Deutschen auszeichne, schrieb Steiner 1915. Sie seien "immer in lebendiger Einheit mit dem Übersinnlichen". Auch Krankheiten waren für Steiner spirituell, also übersinnlich begründet. Wie soll da also ein Impfstoff helfen?

Eine aktuelle Studie der Universität Basel weist eine deutliche Verbindung zwischen der anthroposophischen Denkweise und den Coronaprotesten nach. Zwar ist die Protestbewegung auch nach rechts weit offen, ihr Kern scheint aber eher antiautoritär und der Anthroposophie zugeneigt: Ein Großteil der Kritiker der Coronamaßnahmen will die Alternativmedizin der Schulmedizin gleichstellen, zurück zur Natur und stärker auf ganzheitliches und spirituelles Denken setzen, so die Studie. 64 Prozent sagen, man solle Kindern nicht beibringen, Autoritäten zu gehorchen.

Schon angesichts der 68er-Bewegung sprach der Politikwissenschaftler Richard Löwenthal vom "romantischen Rückfall". Für ihn waren die 68er die Wiederbelebung eines Kults des genialischen Individuums bei gleichzeitiger Verachtung der Gesellschaft.

Was wir in Deutschland dieser Tage erleben, ist eine Rückwärtsdisruption: die Rückabwicklung des Glaubens daran, dass Fortschritt das Leben besser, ja auch gesünder machen und womöglich sogar verlängern kann.

Begreift man die Romantik als Gegenbewegung zur Aufklärung, zur Industrialisierung und zum Frühkapitalismus, dann haben wir echt ein Problem. Denn ohne ein aufgeklärtes Verständnis der Folgen einer Covid-Erkrankung, ohne die Möglichkeiten der industriellen Impfstoffentwicklung und -fertigung und ohne eine gewisse Akzeptanz dafür, dass die Milliarden, die für die Impfstoffentwicklung notwendig waren, den entwickelnden Unternehmen wiederum Milliarden einbringen, stehen wir auf ziemlich verlorenem Posten.

Man kann natürlich versuchen, das Coronavirus mit einer Wünschelrute aus dem Körper zu wedeln. Die mehr als fünf Millionen Coronatoten weltweit dürften diese Haltung mehrheitlich als posttraumatische Zynismusstörung empfinden - wenn sie denn noch könnten.

Die Anti-Impf-Bewegung ist ein Sammelbecken für die vielen, die vor allem gegen etwas sind. Gegen die Vernunft, die Industrialisierung und den Staat. Sie ist im besten Falle ein Club der lebenden Romantiker, die im Glauben an das Natürliche sogar ihre Gesundheit oder ihr Leben zu opfern bereit sind.

Goethe hat einst gesagt: "Das Klassische nenne ich das Gesunde und das Romantische das Kranke." Die Impfgegner sehen es exakt umgekehrt. Viele von ihnen wird man mit vernünftigen Argumenten auch im neuen Jahr kaum überzeugen können.

Aber wünschen darf man sich schon, dass in 2022 der Resonanzraum wieder wachsen kann für das, was wir schon aus der Antike unter dem Begriff "Techne" kennen: das Handwerk zur planvollen Erreichung eines Ziels. Das lautet: solidarisches Überleben in einer Pandemie mit den Mitteln des Fortschritts.

Gibt es etwas Romantischeres als die Existenz des Menschen in all seiner Komplexität und Schönheit? Und wie romantisch wäre es erst, diese Existenz zu retten aus einer ewigen pandemischen Lage?

Miriam Meckel

Miriam Meckel ist Mitgründerin und Geschäftsführerin von ada und Professorin für Kommunikationsmanagement an der Universität St. Gallen, Schweiz. In dieser Kolumne schreibt sie alle zwei Wochen über Ideen, Innovationen und Interpretationen, die Fortschritt bringen und unser Leben verbessern. Denn was die Raupe das Ende der Welt nennt, nennt der Rest der Welt einen Schmetterling.

Diese Kolumne erscheint sowohl beim Handelsblatt als auch bei uns. 

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