Bloßer Informationskonsum verfehlt den Sinn des Lesens. Überspringt die Zusammenfassung und lest richtig!
In der Geschäftswelt gilt es oft als selbstverständlich, “belesen” zu sein. Wir glauben gerne, dass wir wissen, was los ist, dass wir mit unseren Kund:innen auf Augenhöhe und über Trends auf dem Laufenden sind. Aber wir beurteilen ein Buch oft nach seinem Einband, und das ist in vielen Fällen nicht gut genug.
Schlimmer ist vielleicht, dass im Geschäftsleben das Lesen zunehmend auf das Aufnehmen von Informationen reduziert wird. Dienste wie Blinkist und GetAbstract haben eine optimierte, hyper-effiziente Lesekultur angeheizt, die Bücher auf bloße "Key Takeaways" reduziert und kognitive Dissonanzen oder komplexere Wahrheiten vermeidet. Wenn Elon Musk oder Mark Zuckerberg damit prahlen, wie viele Bücher sie in einer Woche lesen können, ignorieren sie und andere "professionelle Leser:innen" den wichtigsten Nutzen des Lesens: Es geht nicht darum, zu lernen, sondern darum zu vergessen, was wir wissen.
Letzte Woche hatte ich auf dem CogX-Festival das große Vergnügen, die MIT-Professorin und Bestsellerautorin Sherry Turkle zu interviewen. Wir sprachen über den Zusammenhang zwischen Empathie und Ethik, ihre jüngsten Memoiren "The Empathy Diaries" und die Notwendigkeit, "Konversation in einem digitalen Zeitalter zurückzuerobern", um eines ihrer früheren Bücher zu zitieren. Turkle beklagte den Verlust, den wir erleiden, wenn wir uns zunehmend auf Technologie verlassen, um unsere sozialen Interaktionen zu ersetzen. Sie sagte mir, sie sei unbeeindruckt von der "unechten Empathie" von Chatbots wie Woebot (einem KI-basierten Therapeuten) oder anderen Beispielen sozialer Robotik und sogenannter emotionaler künstlicher Intelligenz. "Wahre Empathie erfordert Verletzlichkeit, und Verletzlichkeit ist von Natur aus menschlich", betonte sie.
Genau dabei helfen uns Bücher. Lesen verändert unser Gehirn. Grund ist ein Phänomen namens Neuroplastizität. Demzufolge ist unser Gehirn formbar und entwickelt sich als Reaktion auf unsere Erfahrungen ständig weiter. Neuroplastizität ist die Grundlage für einen Perspektivwechsel, für echte Empathie. Sie ist das, was uns menschlich macht, könnte man argumentieren. Aber sie erfordert echtes Lesen, nicht nur Überfliegen.
Der ganze Sinn des Lesens ist also das Lesen selbst, und wie wir lesen. Es gibt eine direkte Verbindung vom Lesen zur Empathie und zur Akzeptanz von Ansichten, Werten und Ideologien, die sich von unseren eigenen unterscheiden. Um Polarisierung zu überwinden und Spaltungen zu überbrücken, müssen wir nicht alle das gleiche Buch lesen, aber es ist entscheidend, dass wir alle lesen.
Dies ist das Argument, das Maryanne Wolf, eine der weltweit führenden Wissenschaftlerinnen auf dem Gebiet der Lese- und Schreibkompetenz und Direktorin des Zentrums für Dyslexie, diverses Lernen und soziale Gerechtigkeit an der UCLA, letzte Woche in einer Living Room Session leidenschaftlich vorgetragen hat. Sie plädierte für die "Lesen als Menschenrecht".
Und obwohl das überzeugend und tiefgründig ist, ist Lesen und Schreiben nun auch eine Fähigkeit - und bald ein Recht? - von KI. Es ist umstritten, wie gut KI tatsächlich lesen kann, aber Tatsache ist, dass automatisiertes oder erweitertes Lesen durch Maschinen das menschliche Lesen zunehmend ersetzen wird. Und KI ist nicht nur der neue Leser, sondern auch der neue Schreiber auf dem Platz. Microsofts Chatbot Xiaoice zum Beispiel hat gelernt, Gedichte und Kurzgeschichten zu schreiben, und für seine mehr als 660 Millionen Nutzer:innen sind diese Texte oft die Literatur, die den stärksten Bezug zu ihrem Alltag hat. Und dann sind da noch die Algorithmen, die über Social-Media-Plattformen wie TikTok in unser Leben eindringen. Sie erfordern eine neue Form der Belesenheit und bieten gleichzeitig die Chance, sich zu Fragen rund um Identität, Rassismus und Geschlecht besser zu informieren.
"Externe Technologien transformieren uns. Sie verändern uns auf einer physiologischen, einer psychologischen und einer sozial-emotionalen Ebene", so Wolf. Wie können wir Algorithmen lehren, Empathie zu entwickeln? Sollten wir das? Maryanne Wolf sagte, sie sei hoffnungsvoll, dass, wenn wir es schaffen, "die Vorstellungskraft des Künstlers mit der schönen Intelligenz in unseren Technologien zu kombinieren, wir niemals das verlieren werden, was uns einzigartig menschlich macht, egal was wir erschaffen."
Unter Berufung auf die Moralphilosophin Martha Nussbaum legte sie die Folgen dar, wenn wir daran scheitern: "Es wäre katastrophal, eine Nation von technisch kompetenten Menschen zu werden, die die Fähigkeit verloren haben, kritisch zu denken, sich selbst zu prüfen und die Menschlichkeit und Vielfalt anderer zu respektieren."
Lesen ist vor allem eine schöne Beschäftigung - kein Geschäft. Nehmt euch Zeit dafür; die ganze Welt hängt davon ab.