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  • 14.05.2021
  • Alexander Graf

Brauchen wir eine Informationsdiät?

Wie lässt sich die tägliche Nachrichtenflut bewältigen? Professionelle Leser:innen raten: Push-Nachrichten aus, Multitasking vermeiden und den eigenen Bedarf vorher klären.

Wären Texte wie guter Wein, dann wäre Robert Cottrell ein gefeierter Sommelier. Und das nicht nur, weil der ehemalige Moskau-Korrespondent der „Financial Times“ jeden Tag die (aus seiner Sicht) besten journalistischen Stücke für seinen Newsletter „The Browser“ auswählt.

Es ist eher die Art, wie der Brite zuvor die Qualität eines Texts bestimmt. In kleinen Schlucken tastet er sich prüfend vor, routiniert zwar, aber stets bereit, sich überraschen zu lassen. Das meiste davon spuckt er wieder aus. Nur von den wirklich edlen Tropfen gönnt sich Cottrell mal ein ganzes Glas, also den kompletten Text.

Glaubt man dem US-Technologieexperten Clay Johnson, Autor des Buchs „The Information Diet“, dann ähnelt unser Informationskonsum unserem Umgang mit Lebensmitteln. Allerdings gehen die wenigsten Menschen dabei vor wie der Feinschmecker Robert Cottrell. Stattdessen stopfen sie achtlos und hastig einen Happen nach dem anderen in sich hinein – ohne Rücksicht auf Qualität oder das eigene Hungergefühl. Hauptsache, es schmeckt und sättigt. Kurzfristig jedenfalls. 

Und während das Junkfood der Lebensmittelindustrie eine Gesellschaft der Übergewichtigen und Herzkranken erzeugt hat, so sollen auch die Push-Nachrichten der digitalen Informationsindustrie unsere Gesundheit gefährden. Nach Meinung von Johnson brauchen wir alle eine radikale Informationsdiät.

Die Angst vor der Informationsflut


Diese Befürchtungen sind einerseits nicht neu. Seit es Medien gibt, sehen Kulturkritiker:innen bei jeder neuen Entwicklung am Horizont die Schatten des gesellschaftlichen Niedergangs aufziehen. Schon der antike Philosoph Platon befürchtete, dass die Erfindung der Schrift aus seinen Zeitgenossen geistlose Wesen ohne jegliches Erinnerungsvermögen machen würde. Schließlich könnten sie die nötigen Informationen ja künftig jederzeit nachlesen. Um Himmels willen. 

Fast genauso alt ist die Angst, dass ein Zuviel an Informationen für uns schädlich sein könnte. Und doch ist die Furcht vor einem „information overload“, also einer nicht mehr zu bewältigenden Informationsflut, in den vergangenen Jahren noch einmal deutlich lauter geworden. Wissenschaftlich ist diese Frage noch nicht eindeutig geklärt. Studien legen allerdings nahe, dass es für viele Menschen zunehmend zur Last wird, aus den unzähligen und niemals versiegenden Informationsquellen des Internets schöpfen zu dürfen. 

Die Begeisterung über die Allverfügbarkeit von Wissen weicht dann dem Frust darüber, dass man nicht mehr hinterherkommt. Ständig droht man irgendetwas im Netz zu verpassen, unablässig lockt eine neue Überschrift mit der Aussicht auf Breaking News. Die Genugtuung, dank der Tageszeitung oder den Acht-Uhr-Nachrichten das Wichtigste des Tages erfahren zu haben, gibt es in einer Welt ständiger Aktualisierungen nicht mehr.

„Wenn Menschen das Gefühl haben, Informationen nicht mehr ausreichend verarbeiten zu können, kann das Stress, Verwirrung und Ängste hervorrufen“, schreiben Morten Skovsgaard (Universität Odense) und Kim Andersen (Universität Göteborg) in einer Überblicksarbeit. 

„Unsere Steinzeitgehirne haben sich an unsere digitale Umwelt einfach noch nicht angepasst“, sagt auch die Neurowissenschaftlerin und Autorin Maren Urner. Urzeitliche Reflexe führten beispielsweise dazu, dass wir negative Dinge emotionaler und intensiver verarbeiten als positive – gerade im täglichen Nachrichtenstrom sei das fatal. „Solche Impulse können wir unserem Gehirn nicht abgewöhnen. „Das heißt aber nicht, dass wir nicht lernen könnten, besser mit der täglichen Informationsflut umzugehen.“ Nur: Wie soll das gehen?

Kein Patentrezept


Robert Cottrell scheint diese Herausforderung auf bemerkenswerte Weise gemeistert zu haben. Nach eigenen Angaben durchforstet der Newsletter-Kurator jeden Tag etwa 1000 Artikel auf der Suche nach den fünf besten Stücken – und das ganz ohne Stress oder das Gefühl, in dieser gewaltigen Menge an Informationen den Überblick zu verlieren.

„Ich betrachte mich einfach als jemanden, der in Texten nach Freude, Überraschung und Vergnügen sucht – und davon kann man schließlich nie genug bekommen“, sagt er. „Ich würde mir deshalb sogar wünschen, ich wäre einer ständigen Vergnügensflut ausgesetzt.“

Man kann das als britisches Understatement sehen. Doch die Forschung gibt Cottrell recht: Laut einer Studie von Psycholog:innen um Josephine Schmitt vom Center for Advanced Internet Studies in Bochum scheinen jene Internetnutzer:innen besonders wenig an der Informationsflut zu leiden, die eine bewusste Strategie zur Informationsgewinnung im Netz entwickelt haben.

Die Autor:innen befragten in einer Onlineumfrage rund 400 Personen zu ihrem Nachrichtenkonsum. Dabei wollten sie beispielsweise wissen, wie häufig, wo und warum die Teilnehmer:innen Nachrichten im Netz konsumierten, wie sie an die Informationen herankamen und ob sie Anzeichen für einen „information overload“ zeigten. Ein Rezept für alle gibt es demnach nicht.

Eigene Strategien entwickeln


Vielmehr meinen die Autor:innen, dass man sich mit einer passenden Strategie dem Informationsstrom nicht einfach passiv ergibt, sondern die Fähigkeit besitzt, gezielt und effektiv an gewünschte Informationen zu kommen. Ein Tabu gibt es hingegen schon: Befragte, die sich vor allem auf Push-Nachrichten verließen, fühlten sich besonders häufig von der täglichen Informationsflut überrollt. Cottrell sucht nach Texten, die ihm einen tatsächlichen Mehrwert versprechen: „Bei jedem Artikel frage ich mich, ob ich ihn auch in einem Jahr noch interessant finden würde.“ 

Dieses Ziel des eigenen Informationskonsums kann jede:r individuell definieren. Auch Zerstreuung oder Unterhaltung sind legitime Beweggründe – entscheidend ist bloß, dass man sich darüber klar wird, welches Ziel man gerade verfolgt. Wer ursprünglich auf der Suche nach Literatur für die Masterarbeit war und sich nach drei Stunden Blind Date mit dem YouTube-Algorithmus vor dem Bildschirm wiederfindet, wird eher frustriert sein als jemand, der sich bewusst auf der Videoplattform umgeschaut hat.

In Cottrells Fall führt dieser Ansatz zu einer weiteren Lektion: Tagesaktuelle Nachrichten kommen bis auf die morgendliche Lektüre der „New York Times“ in seiner Informationsdiät so gut wie gar nicht vor – sie versprechen schließlich schon per Definition keinen nachhaltigen Mehrwert.

Vertreter:innen der sogenannten news avoidance werben deshalb schon länger für einen kompletten Verzicht auf Nachrichten. Ihre Argumente: Während einem täglich eine Flut an katastrophalen Ereignissen ins Wohnzimmer gespült wird, wachse mit dem Gefühl der eigenen Machtlosigkeit auch die Unzufriedenheit. Zudem sei ein Großteil der Meldungen für das eigene Leben vollkommen irrelevant.

Robert Cottrell würde dem zwar prinzipiell zustimmen. Für sich selbst hat er allerdings eine weniger radikale Routine etabliert, die ihm dennoch eine höchstmögliche Relevanz garantiert. Er hat sich aus Hunderten von RSS-Feeds und Newslettern eine lange, aber dennoch begrenzte Zutatenliste für sein tägliches Menü zusammengestellt. So steigt einerseits die Wahrscheinlichkeit, hochwertige Inhalte serviert zu bekommen, andererseits minimiert sich im RSS-Reader die Gefahr, abgelenkt zu werden.

„Zuerst fange ich also damit an, alles zu lesen“, sagt Cottrell. „Aber sobald ich auch nur ansatzweise das Interesse verliere, höre ich wieder auf.“ Meist sei das schon nach der Überschrift der Fall, wenn es mal wieder ein eher nachrichtliches Stück sei. Hohe Ansprüche stellt er zudem an den ersten Absatz: „Journalisten tun alles dafür, um am Anfang von der Relevanz des Stücks zu überzeugen. Wenn also schon der Beginn nichts taugt, ist die Wahrscheinlichkeit sehr gering, dass es danach noch besser wird.“

Fähigkeit zur Selbstreflexion


Aus Cottrells Sicht mag das alles simpel und naheliegend klingen. Für die meisten Menschen ist es das allerdings nicht. Das liegt vor allem daran, dass der langjährige Journalist als professioneller Leser spezielle Fähigkeiten trainiert hat, die Forscher:innen als Metakognition bezeichnen. Vereinfacht gesagt, geht es darum, über das eigene Denken nachdenken zu können – vielen Expert:innen zufolge entscheidend, um im digitalen Informationszeitalter bestehen zu können.

Davon ist auch Gerhard Lauer überzeugt, Professor für Digital Humanities an der Universität Basel. „Gefragt ist Metakognition vor allem, um zu wissen, welcher Lektüremodus für welches Lesen angemessen ist.“ Dabei sei der Lesebegriff weit zu fassen – Texte können in diesem Fall Push-Nachrichten, Tweets, Nachrichtenartikel oder Infografiken sein. Die entscheidenden Fragen lauten: Was für einen Text habe ich vor mir? Wie viel Aufmerksamkeit muss ich ihm schenken? Welche der Informationen brauche ich wirklich – und wie komme ich am schnellsten an sie ran?

„Es macht einen Unterschied, ob ich mich von einem Roman treiben lassen will oder konzentriert einer Fragestellung in vielen Veröffentlichungen nachgehe und dazu viele verschiedene Texte zügig durchsehen muss“, schreibt Lauer in seinem Buch „Lesen im digitalen Zeitalter“.

Wie in einem Menü sollten unterschiedliche Textformen als einzelne Gänge genossen werden – alles durcheinander erschwert die Informationsaufnahme. „Wenn ich an einem wissenschaftlichen Text arbeite, ist Selbstisolation ganz wichtig“, sagt der Forscher. Zudem nutzt er soziale Netzwerke ausschließlich beruflich, um ohne Ablenkung an die für ihn dort relevanten Inhalte zu kommen.

Maren Urner hat ein ganzes Buch darüber geschrieben, wie wir diese metakognitiven Fähigkeiten verbessern und Wege aus der digitalen Überforderung finden können („Schluss mit dem täglichen Weltuntergang“). Sie wirbt unter anderem dafür, schon in den Schulen den Grundstein für einen gesunden und kritischen Umgang mit Informationen zu legen.

Aber auch in ihrem täglichen Medienkonsum wendet sie Strategien an, um den Schwächen unseres Steinzeitgehirns etwas entgegenzusetzen. „In sozialen Kontexten und bei der Lektüre anspruchsvoller Texte lasse ich das Smartphone komplett in der Tasche“, sagt Urner. „Multitasking ist eine Illusion, und jede Ablenkung führt nachweislich dazu, dass wir mit unserer Aufmerksamkeit erst mit langer Verzögerung oder gar nicht mehr zur ursprünglichen Tätigkeit zurückkehren.“ Zudem hat sie alle Push-Nachrichten deaktiviert – selbst die ihrer E-Mails.

Robert Cottrell ist derweil eher unfreiwillig an seiner Grenze angelangt. Mehr geht einfach nicht – obwohl seine Neugierde auf gute Texte offenbar immer noch nicht gestillt ist. Der Brite arbeitet deshalb daran, sich einen Assistenten in Form einer künstlichen Intelligenz zu schaffen: Derzeit trainiert er mittels maschinellen Lernens ein neuronales Netzwerk, das künftig in der Lage sein soll, passende Artikel zu erkennen und eine Vorauswahl zu treffen.

Titelbild: Getty Images

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