Die hell erleuchtete Metropole war traditionell ein Symbol von Fortschritt, Moderne und Prosperität. Die Stadt der Zukunft hingegen dimmt das Licht – und verleiht ihm damit ein ganz besonderes Eigenleben.
Eine Nacht auf dem Dorf ist eine ziemlich düstere Angelegenheit. Zu hören ist kaum etwas, zu sehen noch weniger. Licht dringt höchstens gedämpft aus den Fenstern der Einfamilienhäuser, Insekten surren um vereinzelte Straßenlaternen. Was für ein Kontrast, wenn man in die Ferne blickt.
Dort führen mehrspurige Autobahnen wie leuchtende Lichtbänder in die Außenbezirke. Gleißend hell und bunt flackern die Neonlichter im Zentrum. Blinkende Werbetafeln und hell erleuchtete Schaufenster wetteifern um die Aufmerksamkeit nächtlicher Passanten.
Das Licht der Straßenlaternen mischt sich mit den Scheinwerfern der Fahrzeuge, den Warnlichtern der Baustellen, den Sirenen von Polizei und Krankenwagen. Heimelig strahlen die Fensterfronten von Restaurants und Bars, dramatisch die Fassaden der Wolkenkratzer, erhaben die Lichtskulpturen an den Kirchen.
Tatsächlich ist das weithin sichtbare Strahlen der Big City Lights fest verbunden mit dem Traum vom Großstadtleben. Weltmetropolen machen die Nacht ganz buchstäblich zum Tage, ihre Lichter signalisieren: Hier ist es nicht so verschlafen wie auf dem dunklen Land, nein, hier tobt das Leben. New York etwa gilt spätestens seit Frank Sinatra als „die Stadt, die niemals schläft“. Paris wurde als Ville Lumière berühmt, die Stadt des Lichts. In Asien ist man diesem Vorbild gefolgt: Hongkong soll als „Perle des Orients“ so hell strahlen wie möglich. Selbst Astronaut:innen erkennen vom All aus die Megacitys als leuchtende Formationen. Und Volkswirtschaftler:innen wollen anhand der Beleuchtungsintensität der Ballungsräume messen, wie es der Wirtschaft geht. Je heller die Stadt, desto prosperierender und dynamischer. Es scheint so, als müssten sie sich künftig nach anderen Messgrößen fürs Wohlergehen umschauen.
Denn inzwischen haben die ersten Metropolen damit begonnen, ihr Licht zu dimmen. „Das richtige Licht am richtigen Ort zur richtigen Zeit“, so fasst Chintan Shah zusammen, was als neues Ziel in der nächtlichen Beleuchtungsstrategie großer Städte gilt. In vielen Fällen bedeutet das unterm Strich: weniger Licht als bisher.
Hell, aber leer
Shah hatte seine, nun ja, Erleuchtung als er als Ingenieur an der Technischen Universität im niederländischen Delft forschte. Er pendelte häufig im Flieger zwischen Großstädten in Europa und Indien hin und her. Bei einem nächtlichen Landeanflug fiel ihm auf: Die meisten der hell erleuchteten Straßen und Plätze waren menschenleer.
Was für eine Energieverschwendung, dachte Shah. Und so recherchierte er noch auf dem Heimweg das Ausmaß des Lichtüberschusses. Ergebnis: Rund 350 Millionen Straßenlaternen leuchten in Städten weltweit, Kommunen geben bis zu 40 Prozent ihrer gesamten Energiekosten für Straßenbeleuchtung aus. Weltweit sind sie immerhin für rund drei Prozent des gesamten elektrischen Energieaufkommens verantwortlich.
Dabei leuchten sie oft ohne Sinn und Zweck. Denn die Steuerung alter Beleuchtungssysteme kennt bloß den Unterschied zwischen hell und dunkel – und schaltet entsprechend schwerfällig und verschwenderisch. Für Ingenieur Shah war klar: Mit moderner Sensorik und smarter Vernetzung ginge das ganz anders. Er begann, an einem Konzept zu arbeiten, das er „Light on Demand“ nennt: Sensoren an Straßenlaternen messen Daten wie Lichtintensität, Luftfeuchtigkeit und Verkehrsaufkommen. Sie reagieren auf Autos, Fahrräder und Passant:innen und leuchten bloß dann in voller Intensität, wenn sie gebraucht werden.
Wer nachts durch eine derart intelligent beleuchtete Stadt läuft oder fährt, kann das in einem sicheren Lichtkreis tun, der sich mit ihm gemeinsam durch die Stadt bewegt. Wo keine Menschen unterwegs sind, dimmen sich die Leuchten automatisch auf ein Dämmerlicht herunter. Mit seinem Start-up Tvilight war Shah vor einigen Jahren einer der Ersten, die smarte Beleuchtungskonzepte anboten. Er hat seither bereits einige europäische Städte ausgerüstet.
Inzwischen ist der Markt für Smart Lighting hart umkämpft: Längst bieten alle großen Lichttechnikkonzerne Beleuchtungen an, die sich mithilfe von IoT-Technologie, Sensoren und Algorithmen immer feiner und flexibler steuern lassen. Das Interesse der Stadtplaner sei nicht nur deshalb groß, weil sich dadurch Kosten und Energie einsparen lassen, sagt Shah: „Auch Lichtverschmutzung ist ein großes Thema.“
Blick auf das hell erleuchtete Barcelona. Foto: Getty
Großstadtlichter zeigen nämlich immer deutlicher ihre Schattenseiten. Forscher:innen haben nachgewiesen: Die Dauerbestrahlung aus Neonleuchten und Straßenlaternen verursacht bei Großstadtbewohner:innen permanenten Mini-Jetlag, der Stress verursachen und krank machen kann. Und sie schadet Tieren und Pflanzen. Die Lichter der großen Küstenstädte verwirren etwa nachtaktive Fische und andere Meerestiere, deren Biorhythmus auf Lichtsignale reagiert. Smarte Konzepte können diese Verschmutzung begrenzen, ohne dass dabei die Städte gleich in diffusem Dunkel versinken müssen.
Das LED-Paradox
Dazu müssten sie allerdings ganzheitlich erdacht und geplant werden, sagt Nona Schulte-Römer. Die Wissenschaftlerin forscht am Department für Stadt- und Umweltsoziologie des Helmholtz Zentrums in Leipzig zu den Nebenwirkungen innovativer Lichtkonzepte. Wenn Städte beginnen, auf moderne Beleuchtungstechnologien umzustellen, erweise sich die vermeintlich nachhaltige, neue Beleuchtungstechnik oft ungewollt doch als gesundheits- und umweltschädlich, berichtet sie. So reicht es etwa nicht aus, einfach auf energiesparendere Technologien umzustellen.
Schulte-Römer spricht vom „LED-Paradox“: Zwar kaufen Städte heute bereits oft effizientere, smart steuerbare LED-Technik für die Straßenbeleuchtung, die weniger Lichtstreuung und somit weniger Lichtverschmutzung verspricht. Doch fehlt es in vielen Städten am nötigen Know-how und den Ressourcen, um die Lichttechnik auch wirklich klug und nach den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen einzusetzen. Zwar spart die Stadt dann Energiekosten – doch die leistungsfähigen LED-Lampen lassen die Straßen noch heller erstrahlen als zuvor.
Sind die Stadtplaner:innen erst einmal darauf aufmerksam geworden, dass sie mit ihrer digitalen Lichtinfrastruktur über ein neues Netzwerk verfügen, das sich wie ein Nervensystem durch die ganze Stadt zieht, liegt zudem die Idee nahe, die Laternen mit weiteren Technologien, Sensoren und Anwendungen zu kombinieren. Straßenlaternen werden zusätzlich mit Mobilfunk- und WLAN-Sendern ausgestattet, mit Videokameras, Mikrofonen und Displays, mit Ladestationen für E-Bikes und E-Autos.
Sensoren an den Laternenmasten dienen dann nicht mehr in erster Linie der Lichtsteuerung, sondern sammeln Daten für andere Smart-City-Anwendungen. Das seien alles „spannende Ideen“, sagt Schulte-Römer: „Allerdings hat man bisweilen den Eindruck, dass der kluge Einsatz von Licht und das Potenzial kluger Lichtkonzepte etwas in den Hintergrund tritt.“
Licht und Politik
Diesen Eindruck hat auch Leni Schwendinger. Die Amerikanerin bezeichnet sich selbst als Night-Time-Designerin, ihre urbanen Lichtkonzepte sind international bekannt und wurden vielfach ausgezeichnet. In den USA werde bereits intensiv diskutiert, wer die smarten Straßenleuchten kontrollieren kann und darf. Wenn Licht eingesetzt wird, um Mobilität klug zu steuern und den Verkehr sicherer zu machen, sei das problemlos. Wenn aber die Polizei Daten von Lichtsensoren für Ermittlungen einsetzt oder wenn nicht die Stadt selbst, sondern Betreiberfirmen Algorithmen und Daten zur Steuerung des Licht- und Verkehrsflusses besitzen, „dann wird Lichttechnik plötzlich hochpolitisch“, so Schwendinger.
In San Diego etwa gelten neu installierte Straßenlampen bereits als verkappte Überwachungsanlagen. Nach Protesten musste die Stadt sämtliche Daten-Sammelfunktionen der smarten Lichter vorläufig wieder abschalten und ihre Funktionen stark einschränken. Für Schwendinger ein Beispiel, das zeigt: Smarte Technik allein macht kein kluges Lichtkonzept. Straßenlampen sollten nicht einfach nur mit möglichst viel Technik, Gadgets und Funktionen vollgestopft werden, sagt Schwendinger – sondern immer auf die verschiedenen Wünsche und Bedürfnisse der Beteiligten in den Städten angepasst werden.
Licht sende starke Signale – und die Technologie könne dabei helfen, öffentlichen Raum aktiv zu gestalten. Soll der Park in der Nacht im Dunkeln liegen, um die Tierwelt zu schützen? Oder sollte er jederzeit erleuchtet sein, damit sich die Menschen auf dem nächtlichen Heimweg sicher fühlen? Sollten die Lichter in Vergnügungsvierteln und bei Straßenfesten besonders bunt leuchten? Oder sollen sie dezent hinter den Lichtern der Bars und Restaurants in den Hintergrund treten?
Wer Licht so genau steuern kann, ist mit jeder Menge Fragen konfrontiert: Können Ladenbesitzer etwa davon profitieren, wenn die Lichter in der Einkaufsstraße in den Abendstunden besonders hell leuchten, weil Menschen dann länger Lust haben, einzukaufen? Sollten Warnlichter an Straßenlaternen aufflackern und Passanten alarmieren, wenn ein Rettungswagen naht? Darf die Polizei Lichter an einem Einsatzort oder bei einer Großveranstaltung gezielt dimmen oder aufleuchten lassen? Sollten Anwohner per App Zugriff auf die Beleuchtung in ihrer Straße bekommen?
Auf all diese Fragen müsse jede Stadt und jedes Viertel individuelle Antworten finden, sagt Schwendinger: „Wir brauchen eine intensivere gesellschaftliche Debatte darüber, was wir mit den neuen Möglichkeiten der Lichtsteuerung anfangen wollen – und welche Funktionen Licht in den Städten erfüllen kann und soll.“
Nicht heller als nötig
Los Angeles hat 2020 mit dem Test eines Smart-Lighting-Konzepts begonnen, das die nötige Flexibilität mitbringen könnte. Ab diesem Jahr werden die Standard-Straßenleuchten nach und nach durch ein neues „Superbloom“-Modell ersetzt, das sich den Anforderungen in den verschiedenen Stadtvierteln und Straßenzügen anpassen kann.
Die Lichtmasten lassen sich mit einzelnen oder mehreren smart steuerbaren Leuchten ausrüsten. Ein bunter LED-Lichtstreifen kann etwa bei Straßenfesten oder zur Warnung in Gefahrensituationen in verschiedenen Farben aufleuchten. Je nach Bedarf können Anwohner:innen ihre Straßenlampen mit Sonnenschirmen, Informationsdisplays, Sitzbänken, Bewegungsmeldern oder Ladestationen für Smartphones und E-Fahrzeuge aufrüsten.
Die Beleuchtung soll futuristisch wirken – ohne den Stadtvierteln eine einheitliche Idee davon aufzudrängen, wie diese Zukunft auszusehen hat. Bis zum Jahr 2028, wenn in Los Angeles die Olympischen Sommerspiele ausgetragen werden, will die Stadt Tausende der smarten Lichter in den unterschiedlichsten Varianten an verschiedenen Orten zum Leuchten bringen. Die Metropole will der Welt zeigen, dass die Anziehungskraft moderner Großstädte nicht mehr darin liegt, so hell zu strahlen wie möglich. Sondern darin, die Vielfalt der Menschen und ihrer Bedürfnisse klug zu beleuchten.
Titelbild: Sam McJunkin on Unsplash