Womöglich beginnt 2022 der größte Wechselreigen am Arbeitsmarkt, den wir seit Langem erlebt haben in diesem Land. Das scheint bei den Unternehmen jedoch noch nicht ganz angekommen zu sein.
Irgendwo habe ich mal gelesen, dass meine Generation, die Generation X, nach dem Motto „Weniger ist mehr“ lebe. Sollte sich das auf den Arbeitsmarkt bezogen haben, dann stimme ich zu. Richtig gute Jobs waren für uns, die zwischen 1965 und 1982 Geborenen, selten. Wir mussten uns anstrengen, um da hinzugelangen, wo wir gern sein wollten – in meiner Branche, dem Journalismus, gilt das besonders. Restrukturierungen, Stellenabbau, Stecker ganz raus – das gehört für mich zum Joballtag dazu, seit ich ein Volontariat gemacht habe. Die Zeitung von damals, die Financial Times Deutschland, gibt es nicht mehr.
Vielleicht fällt es mir deshalb mitunter so schwer zu glauben, was die Daten uns immer deutlicher sagen: Wir steuern auf eine Zeit zu, in der die Arbeitgeber sich richtig werden anstrengen müssen, um noch da hinzugelangen, wo sie gerne sein würden. Richtig gute Mitarbeiter:innen werden selten. Und ich bin mir nicht sicher, ob das die HR-Verantwortlichen, Führungskräfte und Unternehmenslenkerinnen in diesem Land in Gänze verstanden haben.
In wenigen Jahren schon gehen die geburtenstärksten Jahrgänge, die Babyboomer in Rente. Konkret: Zwischen 2025 und 2035 verschwinden auf dem Arbeitsmarkt in Deutschland mehr als fünf Millionen Erwerbstätige. Obwohl das ein bekanntes Phänomen ist, bereiten wir uns arbeitsmarkttechnisch bisher kaum darauf vor. Eine aktuelle Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft, die im Auftrag meines Arbeitgebers, die New Work SE erstellt wurde, kommt zu dem Schluss: Steuern wir nicht gegen, drohen Deutschland enorme Wohlstandsverluste.
Hinzu kommt: Schon heute suchen Restaurants, Bäckereien, Krankenhäuser nach Personal – und finden es einfach nicht mehr. Denn wir stecken in einer zermürbenden vierten Corona-Welle. Vielen Menschen gibt das einmal mehr die Gelegenheit, über das Leben nachzudenken. Wer kann, sucht sich einen besser bezahlten Job. Und viele Wissensarbeitende stellen sich in diesen Tagen wieder viele Fragen: Wie geht mein Unternehmen mit mir in der Krise um? Ist meine Chefin nett zu mir? Steht mein Arbeitgeber für irgendwas ein? Werde ich fair behandelt und fair bezahlt? Ist mein Unternehmen innovativ und damit zukunftsfähig? Gefällt mir die Kultur in der Firma?
In den USA gibt es für diese innere Einkehr schon einen Namen: The Great Contemplation, auf deutsch die Große Besinnung. Dazu passen statistische Daten: Laut einer aktuellen Umfrage des Anbieters Joblist denken 73 Prozent der Befragten in den USA über einen Jobwechsel nach. In Deutschland sind es laut IW sogar mehr: Hier denken 75 Prozent zumindest gelegentlich über einen Jobwechsel nach.
Selbstverständlich kündigen nicht alle, die sich mit dem Gedanken tragen, am nächsten Tag wirklich. Dennoch müssten es jetzt vielmehr die Arbeitgeber sein, die in diese Große innere Einkehr gehen: Was bieten wir, was niemand anderes sonst hat? Wofür stehen nur wir als Unternehmen ein? Was ist der Kern unserer Kultur?
Die Realität spricht eine andere Sprache. 34 Prozent der befragten Arbeitgeber geben als möglichen Wechselgrund ihrer Angestellten das Betriebsklima an, so das Ergebnis der IW-Studie weiter. Bei den Angestellten sind das 38 Prozent. Da passen Selbst- und Fremdwahrnehmung nicht mehr überein. Der wichtigste Grund, um zu bleiben, ist laut IW-Studie im Übrigen eine sinnstiftende Arbeit (59 Prozent).
Arbeitgeber, hört die Signale: Nur jene Organisationen, die die großen Fragen schneller als ihre Arbeitnehmer werden beantworten können, sind gut aufgestellt. Womöglich beginnt 2022 der größte Wechselreigen am Arbeitsmarkt, den wir seit Langem erlebt haben in diesem Land – wenn die Corona-Pandemie nicht noch völlig ungeahnte Dimensionen annimmt.