Ideen bei Evernote, Texte bei Pocket, Chats bei Slack: Je mehr Dokumente in der Cloud landen, desto wichtiger ist ein sinnvolles Ablagesystem – und so geht’s.
Für seine Arbeit brauchte der russische Journalist Solomon Schereschewski weder ein Aufnahmegerät noch einen Schreibblock. Kein Wort und kein Termin flutschte ihm durch die Gehirnlappen. Keine Aussage, kein Ereignis entging ihm. Ein Traum? Im Gegenteil. Schereschewski war nicht dazu in der Lage, das Wichtige vom Unwichtigen, das Dringende vom Zeitlosen zu trennen. In der Folge ertrank er im Informationsmüll – und endete als trauriger Gedächtniskünstler auf dem Jahrmarkt.
Die meisten Menschen wären gerne ordentlicher und organisierter. Sie würden sich am liebsten an jeden Geburtstag, jede Idee und jede Notiz erinnern – oder sie zumindest schnell verfügbar haben. Vergessen gilt als Schwäche. Als das Eingeständnis, Dinge nicht im Griff zu haben. Vergessen bedeutet versagen. Und das ist heute leichter denn je zuvor.
Sowohl beruflich als auch privat produzieren wir Programmverknüpfungen, Bildschirmfotos, Termine, Dokumente, Ordner und E-Mails. Wie schön, dass uns für das Outsourcing unserer Gehirnleistung zumindest zahlreiche Cloud-Dienste zur Verfügung stehen. Ideen speichern wir bei Evernote, Texte bei Pocket, Projekte bei Trello, Chats bei Slack oder Microsoft Teams.
Doch je mehr wir sammeln und sortieren, desto schwieriger wird es gleichzeitig, im digitalen Archiv den Überblick zu behalten. Laut Statista wurden 2019 weltweit täglich 293,6 Milliarden E-Mails verschickt. Kein Wunder also, dass das Softwareunternehmen Workfront in seiner Studie State of Work 2020 zu dem Ergebnis kommt, dass die Beschäftigten in Deutschland inzwischen weniger als die Hälfte (45 Prozent) ihrer Arbeitswoche damit verbringen, ihre eigentlichen Aufgaben zu erledigen. Stattdessen gehen 13 Prozent der Zeit für administrative Aufgaben drauf – und weitere 13 Prozent, um E-Mails zu senden, zu beantworten und zu sortieren.
Die tägliche Informationsflut ist derart gewaltig, dass man meist schon nach einigen Tagen verloren ist: „Auch Suchfunktionen helfen da nur begrenzt“, sagt Herbert Hertramph, Sozialwissenschaftler an der Universität Ulm, „weil sie oft viel zu viele Ergebnisse liefern und man sich jedes Resultat anschauen muss.“
Denn längst nutzen wir unsere digitalen Organisationshelferlein nicht mehr nur für berufliche Zwecke. Vor allem in den USA haben die zahlreichen Dienste, die auf den ersten Blick ordnenden Segen versprechen, auch in den privaten, familiären Raum Einzug gehalten.
Was aber macht das mit uns, wenn wir uns sämtliche Dinge nur noch digital merken? Hat die Einkaufsliste wirklich die gleiche Bedeutung wie die Abgabefrist für ein wichtiges Projekt? Und braucht tatsächlich jeder Schnipsel in unserem Leben einen eigenen Unterordner und jede E-Mail ein eigenes Eingangsfach?
Digitale Amnesie
„Wir haben einen starken Drang, Dinge zu kategorisieren“, schreibt der Neurowissenschaftler Daniel Levitin in seinem Buch „The Organized Mind“. Und weiter: „Aber davon profitieren wir nicht.“ Zum einen vergessen wir trotzdem, Forscher:innen nennen das Phänomen „digitale Amnesie“: Wenn unser Gerät uns beibringt, dass es zuverlässig Telefonnummern speichert, an Termine erinnert und Notizen ablegt, schaltet unser Gehirn gewissermaßen ab. Die Hälfte aller 16- bis 34-Jährigen glaubt bereits, ihr Smartphone beinhalte quasi alles, was sie wissen oder an was sie sich erinnern müssen.
Bloß: In unserem Leben existieren inzwischen viel zu viele Ablageorte. Unmengen von Speicherplätzen, Wissensdiensten, E-Mail-Ordnern – die noch dazu alle eigene Passwörter und Zugangsdaten haben, die auch wieder irgendwo (aber wo noch mal?) abgelegt sind.
Um diesen Findungsprozess zu optimieren, rät Buchautor Levitin, Kategorien zu schaffen, die höchstens vier Dinge enthalten. Mehr schaffe unser Arbeitsgedächtnis kaum. Das bedeutet etwa, Gegenstände, die einen gemeinsamen Zweck haben, an einem einzigen Ort aufzubewahren, ganz gleich ob analog oder digital. Der schlimmste Fehler sei, „wenn sich alles in verschiedenen Eingangsordnern an verschiedenen Orten häuft und man denkt, man würde sich an die wichtigen Dinge schon erinnern“, so Soziologe Hertramph.
Mut zur Lücke
Es führt also kein Weg daran vorbei: Wir müssen entrümpeln. „Es nützt nichts, den Laptop wie die Türen eines unordentlichen Schrankes einfach zuzuklappen“, sagt Ordnungscoach Annika Schwertfeger, „das Chaos verschwindet nicht.“ Mehr noch, es führt dazu, dass man sich innerlich extrem gestresst fühlt. „Man verliert nicht nur den Überblick, sondern auch viel Zeit“, so Schwertfeger. Heißt: Je aufgeräumter Desktop und Postfach oder Dienste wie Slack sind, je eher wir bereit sind, Informationen ins Tal des Vergessens zu schicken, desto produktiver und konzentrierter arbeiten wir.
Auch Soziologe Hertramph rät deshalb zum „Weniger ist mehr“ – und empfiehlt, beim Organisieren möglichst bei einer App zu bleiben: „Wenn man überall ein bisschen speichert oder ständig ein neues Tool einsetzt, weiß man nach kurzer Zeit auch wieder nicht, wo man die Information gespeichert hatte.“ Seine Benutzeroberfläche ist deshalb überwiegend leer und schwarz. Gerade mal eine Handvoll Programm-Icons gestattet er sich, alle anderen hat er ausgeblendet.
Darüber hinaus raten Expert:innen zu den folgenden sieben Schritten:
1. Zunächst einmal eine ordentliche Ordnerstruktur schaffen – sowohl im E-Mail-Fach als auch auf dem Desktop oder bei Google Docs.
2. In Diensten wie Pocket oder Evernote radikal die Löschtaste drücken und wieder bei null beginnen.
3. Dokumente, Notizen oder E-Mails, die sich nicht kategorisieren lassen, in einen einzigen Ordner „Verschiedenes“ packen – und nicht in viele verschiedene Unterordner.
4. Drei Hauptordner genügen: Wichtige Dokumente, die man nicht täglich benötigt, im „Archiv“ abspeichern. Dazu gehören Versicherungsunterlagen, Quittungen für die Steuer im nächsten Jahr, Reisekostenabrechnungen oder Zertifikate. Im Projektbereich „Aktuelles“ landet alles, woran man gerade arbeitet: Entwürfe für ein neues Projekt, ein unfertiger Artikel, Unterlagen vom aktuellen Umbau. Und ein Bereich „Nachschlagen“ beinhaltet Anschriften, Kurznotizen, Verzeichnisse – Dokumente also, die man immer wieder benötigt.
5. Dateien unbedingt immer nach ähnlichem Muster benennen, etwa: Datum–Schlagwort–Inhalt.
6. Wer gerne handschriftliche Notizen macht – bitte schön. Viele Studien belegen, dass das Gehirn sich Dinge, die per Hand notiert worden sind, besser merkt. Noch besser ist es allerdings, die Notiz anschließend abzufotografieren oder einzuscannen und abzuspeichern.
7. Täglich fixe Zeiten zum „Aufräumen“ einplanen, etwa morgens oder zum Feierabend.
Vor allem aber empfehlen Expert:innen Gelassenheit – denn es ist gar nicht so schlimm, auch mal etwas zu vergessen. Einen besonders schönen Beleg entdeckten neulich die kanadischen Forscher Blake Richards und Paul Frankland von der Universität von Toronto. Sie fanden in einer Studie heraus: Die charmanteste Form von Vergesslichkeit, die vielberühmte Schusseligkeit, ist kein Indikator für Inkompetenz oder Überforderung – sondern für besondere Intelligenz.
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